Bekenntnisse eines Süchtigen
Aus einem Gespräch mit Peter Wagner
(Programmheft „Die Nackten“,
THEATER M.B.H., 1995)
Ich weiß um eine moralische und metaphysische Schuld, nach
der ich täglich verzweifelter und täglich besessener fragte,
je weiter sie von mir weggeschoben wurde, je aggressiver meine Elterngeneration
den Versuch unternahm, mich von einer Mitschuld zu befreien, indem
sie die eigene leugnete. Das Wohlbehüten ist eine Form der Aggression,
denn es hindert an der existentiellen Auseinandersetzung – an
der Einsamkeit – zu werden. Und es gibt in Wahrheit die Schuld
nur umso heimtückischer und unvermittelter weiter. In der Tarnung
liegt die Falle. Niemand ist so moralisch indifferent und im Grunde
entscheidungsschwach, ja melancholisch aggressiv, wie der wohlbehütete,
nicht erwachsen gewordene Mensch der Verdrängungsgesellschaft.
Daran krankt die gesamte, monströs wichtig gewordene Zivilisation.
Die bürgerliche Ausgewogenheit der Werte ist in ihrer Konsequenz
der Zusammenbruch jeglicher Haftung zum Leben.
Sie ist nicht der überwundene Krieg, sie ist der Krieg selbst – ist
eine permanente Implosion des rationalen Wahnsinns und zerstört
persönliche und gesellschaftliche Identität. Wir wundern
uns, dass der Barbarismus, der wirkliche, mörderische, eiskalte,
inmitten der Zivilisation entsteht. In Wirklichkeit entsteht er nur
dort. Ein Synonym für Zivilisation heißt Auschwitz – endgültig
und für immer.
Wir haben in diesem Jahrhundert eine Kultur der psychischen Aufdeckung
entwickelt, doch jeder Schritt in Richtung Klarheit ist ein Offenlegen
der nächsten und übernächsten Wunde, mit der wir nicht
fertig werden.
Wir erleben Gegenwart nicht mehr zyklisch, weil die Zyklen sich
mit absoluter Rasanz bewegen und nicht mehr wahrnehmbar sind. Die
Hysterie des „Schnittes“, der ganz kurzen Ausschnitte
hintereinander, die rein affektive Bewegung unserer Empfindungen,
das Bedienen in möglichst kurzen Sequenzen lassen keine Zeit
des Erlebens und Empfindens zu.
Aus der Unmöglichkeit zu differenzieren erlebt, empfindet man
jedes Bild, jeden Kader als gleichwertige Mitteilung.
Wir haben die Unbefangenheit verloren, ins Leben hineinzugehen.
Die Aufklärung, die durch Jahrhunderte einen humanistischen
Gedanken verfolgt und definiert hat, hat auch einen Allmachtsanspruch
des Geistes entwickelt. Und damit hat die höllische Diskrepanz
zwischen dem Sein und der Phantasie auf das Sein begonnen. Ich denke,
wir haben eine Kultur des Nicht-Seins entwickelt.
Unsere Wahrheitssuche wird zum Irrlauf durch das Unbewältigbare.
Wir sind intellektuell wie gefühlsmäßig hochgradig
hysterisch.
Ich will den Monotheismus, sein Monopol auf Wahrheit, nicht akzeptieren,
ich halte ihn für einen Frevel.
Sollte es jemals eine Generation geben, die unbelastet über
das 20. Jahrhundert nachdenkt, wird sie zum Schluss kommen, dass
wir sehr wohl ein religiöses Jahrhundert waren, wir haben unsere
Glaubensdimension in die Technik hineinkompensiert. Unsere Naivität
ist phänomenal. Unser „besseres Wissen“ delegieren
wir in den Glauben an die Perfektion – das ist die Göttin,
der wir vertrauen. Wie jeder Eingottglaube wird auch dieser autoritär,
endet in Tyrannei. Jeder Monotheismus führt in die Katastrophe.
Dieses Geschrei, wenn die Göttin einen Schnupfen hat und 2
% Wirtschaftswachstum weniger spendet!
Die Muttermilch der Prozente fehlt uns – die Phantasien laufen
in Richtung Verhungern. Unser Reichtum ist unsere Armut.
Es wird bestens laufen mit der Konjunktur, und trotzdem wird die
psychische Depression wachsen. Nicht trotzdem, sondern deswegen.
Die Depression der wohlhabenden Welt liegt in ihrem latenten Schuldgefühl
eines nicht mehr zu rechtfertigenden Wohlstandes auf Kosten anderer
begründet. Für mich ist die Depression einfach logisch.
Mit dem Betrieb „Kultur“ habe ich große Schwierigkeiten,
ich weiß nicht mehr, ob und wie man ihn bedienen soll – diesen
Betrieb, der wie ein bunter Kreisel selbstgefällig vor sich
hintanzt und alle möglichen Unterhaltungsansprüche befriedigt –,
ich weiß nicht mehr, wo das noch auf die Seele der Menschen
losgeht, wie man dem Bedienungsmechanismus als Künstler entgeht.
Für mich sehe ich die Notwendigkeit, wieder wesentlich kämpferischer
zu werden, in Form und Inhalt. Kunst muss wieder in den Gestaltungsprozess
des öffentlichen Dialogs eintauchen. In den letzten Jahren galt
es ja nachgerade als obszön, sich mit dem Schmutz trivialen
Lebens zu beflecken.
Kunst kann mit nackten Fingern ins offene Fleisch der Seele greifen
und den Schmerz verursachen, der letztendlich heilsam ist. Man kann
wehtun.
Wir brauchen nicht so sehr Tabletten, die Schmerz beseitigen, wir
müssten eine Tablette erfinden, die Schmerz verursacht.
Kunst ist eine Möglichkeit, diese Tablette auszuteilen.
Dass Schmerz heilsam ist, wussten schon die Griechen. Sie haben
den genialen Begriff der „Katharsis“ erfunden – jenen
Schrecken, der so durchfährt, dass nachher nichts mehr so sein
kann, wie es vorher war.
Die Unterhaltung rationalisiert den Schmerz weg. Sie ist die Tablette,
die vorgibt, Schmerz zu beseitigen, und uns in eine völlige
Egalität der Gefühle überführt. Dort sind wir
endgültig verloren. Ein wüster und dumpfer Haufen von Klischees
unserer selbst.
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