|
 |
 |
Briefwechsel
Uraufführung „Todestag“
Februar - März 1993
Dokumentation
Wien, 2. Februar 1993
Geschätzter Peter Wagner,
eigentlich wollten wir Ihnen gestern, am ersten Bühnenprobetag,
nach dem Markieren des Grundrisses, die ernsthaft erarbeiteten Ergebnisse
unserer 20 stündigen Dramaturgie für die Spielfassung Ihres
Stückes "Todestag" zur Kenntnis bringen.
Leider sind Sie plötzlich weggewesen, so daß dieses für
uns so wichtige Gespräch nicht stattfinden konnte. Wie Theaterpraktiker
seit Jahrtausenden wissen, wird seit Aischylos kein Stück ohne
dramaturgische Spielfassung vom Blatt gespielt. Ohne Striche, Szenen-Zurechtrückungen,
Satzumstellungen und gelegentliche Sprachverdeutlichungen ist noch
kein Klassiker, vielweniger ein Autor unserer Tage, jemals aufgeführt
worden. Das ist aus mehreren Gründen notwendig:
Einmal ist Literatur eines, das lebende Theater aber ein gänzlich
anderes. Vieles, was sich trefflich liest, ist auf der Bühne,
wo der Gestus der Schauspieler oft ganze Seiten an Text überflüssig
macht, oft nur noch unbrauchbarer Ballast und Geschwätz.
Zum anderen klingen Texte in unterschiedlichen Epochen und Zeiten
jeweils sehr anders. Sie brauchen und erhalten deshalb an verantwortungsvollen
Theatern eine bühnengerechte Bearbeitung. Ihre Tragödie "Todestag" ist,
das habe ich Ihnen in meinem kleinen Text zur Druckfassung des Stücks
bereits bestätigt, der heutzutage selten gewordene kühne
Wurf einer antik anmutenden Verknüpfung unbewältigter Probleme,
die zu Konflikten und daraus entstehenden Kämpfen aller gegen
alle führen. Und das alles in der durchaus aristotelischen Gesetzmäßigkeit
der drei Einheiten: der Zeit, des Ortes und der Handlung. Bei dieser
glücklichen Vorlage einer zu spielenden Handlung waren nur minimale
Zurechtrückungen der Textur und die Eliminierung einiger ganz
weniger, beim Schreiben eingeflossener Un-wörter notwendig,
diese aber unbedingt.
Die Beibehaltung der beim Schreiben des Urtextes selbstverständlich
noch nicht korrigierten Modeausdrücke, verschiedenen, aus dem
Kintop- und TV-Piefkenesisch, als auch des durch die Verlagerung
der Fabel aus dem eingrenzenden Heute in eine viel größere
Allgemeingültigkeit sinnwidrig gewordenen Vokabulars, etwa aus
der Vulgär-Psychologie oder des westlichen Marketings, sind
für professionelle Schauspieler natürlich nicht mehr "rollenidentisch" und
ausschließlich aus diesem Grunde auch nicht mehr künstlerisch
verantwortbar. Deshalb wurde richtiggestellt.
So haben wir, wie ich Ihnen schon seinerzeit im Cafe am Ring und
dann noch einmal im Restaurant in Eisenstadt versprochen habe, unsere
Rezeption ganz aus dem modisch bedingten Heute auf die allgemeingültige
Ebene gerückt. Dementsprechend wurden ein paar, dadurch unpassend
gewordene Wörtlein durch andere, deutlichere, bestens ausgetauscht.
Das kommt dem Stück und seinen Figuren sehr zugute.
Das Ensemble hat es sich bei der notwendig gewordenen Wortfindung
keineswegs leicht gemacht. Jede einzelne Wortauswechslung wurde genau
auf Aussagewert, Figurenidentität und Situationsgenauigkeit überprüft.
Zwanzig Stunden lang!
Dazu möchten wir bemerken, daß Theaterpraktiker, die
38 Jahre lang mit den unterschiedlichsten Texten umzugehen gelernt
haben, Schauspieler, die den Autor Peter Wagner schätzen und
sehr wohl zwischen Genie und Unfertigkeit unterscheiden können,
sich der dramatrugischen Arbeit mit einem Verantwortungsbewußtsein
angenommen haben, wie sie derzeit an keinem anderen Theater zu finden
ist. Sie sind sich der Errungenschaften der kämpferischen Künstler
sehr wohl bewußt und längst nicht mehr Willens, bei Probebeginn
ihren Verstand an der Garderobe abzugeben. Sie wollen das, was sie
spielen, mitverantworten.
Schauspieler sind weder gedankenlose Tonträger noch willenlose
Vollziehungsgehilfen von Literaten und Stückeschreibern, auch
keine mundtoten Nachschöpfer vorgefertigter Formen. Sie verstehen
sich vielmehr als durchaus produktive und eigenschöpferische
Künstler, für die ein Dramentext allerdings die notwendige
Herausforderung darstellt.
Gerade ein gesellschaftskritischer Autor, als den wir Sie gerne
sehen wollen, sollte doch nicht ernsthaft auf gottähnlicher
Unfehlbarkeit bestehen, wenn ihm Fachwissen und Erfahrenheit kleine,
notwendige Verbesserungen für die Bühnenfassung anbieten,
und lachhafterweise darauf bestehen wollen, daß erkannte Fehler
justament nicht korrigiert werden. Daß anstatt der zutreffenden,
eine von TV- und Kintop verdorbene Sprache gesprochen wird und das
bei Zustimmung zur Antiken-Version!
Lieber Peter Wagner,
wir laden Sie daher gerne ein, das am Montag versäumte, dramaturgische
Gespräch mit uns nachzuholen. Um aus verzeihbarer Unerfahrenheit
entstandene Irrtümer zu berichtigen und Sie darüber zu
versichern, daß alles ausschließlich im Sinn des Stückes
und seiner Glaubwürdigkeit auf der Bühne stattfindet.
Das Ensemble ist sich der Richtigkeit der für das Stück
geleisteten Dramaturgie und seiner künstlerischen Mitverantwortung
voll bewußt und erwartet, daß eventuelle Mißverständnisse
bei einem Arbeitsgespräch leicht zu berichtigen sind.
Im übrigen sind wir bereits intensiv und in guter Probestimmung
bei der Arbeit.
Wir ersuchen Sie um den ehestmöglichen Termin zur Kontrolldramaturgie
und bitten um Rückruf oder Brief-Nachricht an den künstlerischen
Leiter Conny Hannes Meyer, Spiegelgasse 4/5a, 1010 Wien. Telefon:
578 01 02 oder 513 41 96 oder 523 79 63.
Mit freundlichen Grüßen und der Bitte um rasche Kontaktaufnahme.
Das Ensemble:
Conny Hannes Meyer, e.h.
Ulli Plichta, e.h.
Georg Kusztrich, e.h.
Maria Urban, e.h.
Ottwald John, e.h.
Maria Martina, e.h.
An das Ensemble
und seinen Kunstleiter
Deutsch
Kaltenbrunn
4. Feber 1993
Liebe Briefeunterschreiber,
Euren öden Nachhilfeunterricht in Sachen Dramaturgie hättet
Ihr Euch sparen können, kein Satz ist mir unbekannt oder neu,
und das hätten zumindest jene, die mich näher kennen, wissen
müssen. Aber Schulmeisterlichkeit erzählt in den wenigsten
Fällen etwas über den zu Beschulmeisternden, sondern eigentlich
nur etwas über den Schulmeister. Hoffentlich ist das nicht generell
Eure Beziehung zum Theater, denn schulmeisterliches Theater ist eigentlich
nichts als grauslich. Es wäre schade um den Rückschritt
in Eurer Entwicklung. Und einige von Euch schätze ich ja außerordentlich,
auch als meine Freunde, hoffentlich nicht irrtümlicherweise.
Auf gottähnliche Unfehlbarkeit bestehe ich keineswegs, die hat
sich mittlerweile das Kollektiv ausbedungen, auch wenn die Übernahme
etwas künstlerisch geleitet klingt. Verzeiht mir die Polemik,
oder verzeiht sie mir auch nicht, es wird noch mehr davon kommen,
und Ulrike hat mir gegenüber ja auch ganz richtig gesagt, es
müsse nicht immer alles so nüchtern sein, man solle die
Dinge ruhig rauslassen, und wenn es die sprichwörtliche Sau
sei. - Im übrigen denke ich, daß eine jede Gruppe mit
dem Aufbau eines Feindbildes wächst, insofern stelle ich mich
zur Verfügung. Meine Sehnsucht, geliebt zu werden, hat auch
irgendwo ihre Grenze.
Ich mußte am letzten Montag gehen, weil ich die Kontrolle über
den ordnenden Verstand verloren hatte. Ich hatte eigentlich nur das
Gefühl, ermordet worden zu sein. Ich zittere jetzt noch bei
der Erinnerung daran. Einerseits kenne ich meinen Narzißmus,
die eruptive, unkontrollierbare Gefahr des blindwütigen Ausschlagens,
die er in sich birgt. Andererseits gibt es Bereiche im Erregungsgrad
eines Menschen, die mit einer plumpen psychologischen Klassifizierung
alleine nicht zu erfassen sind.
Der Blick auf dieses eine, mit einer fremden Maschine geschriebene
Blatt eines aufgeschlagenen Manuskriptes war für mich wie ein
aus dem Nichts daherkommender Frontalzusammenstoß bei Tempo
120. In ihm hat sich alles das kulminiert, was mir an Mord und Verrat
passieren konnte, was ich selbst an beidem schon begangen habe. Vielleicht
erlebt jemand, von dem man behauptet, er wäre bei einem Frontalzusammenstoß "auf
der Stelle" tot gewesen, tatsächlich soetwas wie ein gesamtes
Leben in der orgiastischen Kürze einer Tausendstelsekunde, die
ihn sich dann für den Tod entscheiden läßt. Solch
ein Erlebnis hatte ich an diesem Montag, und das hat zunächst
gar nichts mit Euch zu tun. Ich war mit einem Schlag in einer anderen
Welt, eingeschweißt in einen Glaskasten: Die Welt draußen
war sichtbar, aber nicht erreichbar, nicht greifbar - die Trennung
schlechthin. Ich war herausgeschnitten aus der Realität, die
mich ausgelöscht hatte. Tatsächlich kam ich eigentlich
gar nicht dazu, mich zu entscheiden, ob ich augenblicklich losbrüllen
oder mich zurückziehen und meiner Scham nachgeben sollte. In
mich hinein war ein grauenhafter Haß explodiert, und er zerfetzt
mich noch immer. Mittlerweile hasse ich Euch alle, ausnahmslos. Ich
hasse alles, was mit dieser Produktion zu tun hat, und ich bin vor
allem nicht fähig, soetwas wie einen objektiven Geist walten
zu lassen, ich spiele voller Haß auch auf mich selbst in diesem
Spiel mit, wissend, daß es vielleicht wirklich nur mein Problem
ist, das sich hier zur Krake auswächst. Denn Ihr habt ja, Eurem
Schreiben nach, nach bestem Wissen und Gewissen und unter Verwirklichung
Eures hohen handwerklichen Ethos gehandelt. Und mein Gott, was Eure
Redlichkeit betrifft, hege ich keinen Zweifel - und dennoch hasse
ich Euch, und ich hasse den Schulmeister an Eurer Spitze am meisten.
Und ich hasse mich selbst speziell dafür, daß ich Opfer
eines Hasses geworden bin, der mich verrückt macht. Ich hätte
tatsächlich mit Euch reden können, aber es war zu spät,
da war ich schon tot.
Und ich hasse Felix Mitterer, ich hasse diesen Sozial-Kitsch, den
ich da aus dem mit einer fremden Maschine geschriebenen Text gelesen
habe, es genügten nur einige Zeilen, um dieses erbärmliche
Gefühl der Vergewaltigung in mir zu spüren, noch dazu jener
Vergewaltigung, bei der sich das Opfer im nachhinein schuldig für
seine eigene Vergewaltigung fühlt, denn auch Euer Brief suggeriert
mir, daß mein Gefühl falsch wäre. Leider können
Gefühle nicht falsch sein, daher habe ich dennoch damit zu leben.
Ottwald hat kurz nach meinem Blick in sein Manuskript, das er mir
gleich darauf weggenommen hat, einen sehr genauen Blick auf mich
geworfen, und ich hatte das Gefühl, er wollte - fast eruptiv
- beichten, mit einer befangenen Lüsternheit (die er bestimmt
karikierte), er wollte meine Unwissenheit mit einem Schlag
beenden und mir bedeuten, daß noch eine weitere Vergewaltigung
passiert sei, man hätte aus "Pipi" einen "Mino" gemacht
(welches Plakat ich übrigens für einen lächerlichen
Schwachsinn halte, aber authentisch muß es zugehen bei den
Superrealisten, auch wenn es dumm ist!). Und gerade er, Ottwald,
hat mit seiner nicht nur ironischen Frage, ob er sich gleich wieder
arbeitslos melden solle, in mir den Verdacht des Betruges erst recht
mitausgelöst. Und nocheinmal setzte er etwas hinzu, weil ja
die Wahrheit, wenn sie einmal ausbricht, am liebsten ganz ausbricht
(siehe mein Stück!): "Auch am Ende haben wir noch etwas
eingefügt". Lieber Ottwald, es kann sein, daß ich
Dich gänzlich falsch interpretiere und Dich unerlaubterweise
bereits mit der Figur, die Du übernommen hast, identifiziere,
daß ich Dich falsch zitiere, aber ich rede hier ausschließlich
von meiner Erinnerung an meinen Aufenthalt an einem metaphysischen
Tatort. Was mich im nachhinein als existenzielles Motiv ungeheuer
fasziniert, und dafür bin ich ja auch dankbar: Offenbar waren
die Einzelheiten der Tat allen bekannt, nur einem nicht. Mir. Aber
ich war ja schon tot zu diesem Zeitpunkt. Und es ist besser für
Tote, dort zu bleiben, wo sie sind. Also bin ich gegangen.
Und es interessiert mich nicht, daß Ihr dann irgendwann ohnehin
mit mir reden wolltet und mich nun sogar zur "ehestmöglichen
Kontrolldramaturgie" bittet. Warum erst jetzt? War ich vorher
für die sprachliche Korrektur (und ich rede zunächst nur
von dieser!) nicht wichtig, warum sollte ich es jetzt sein, wo Ihr
mich mit fertigen Tatsachen konfrontiert? (Achtung: Noch immer bin
ich der beleidigte Autor!)
Ich entschuldige mich an dieser Stelle gleich für eines: Für
den Trotz, gleich daraufhin das Stück zu sperren. Alle Rechte
für das Stück sind bis dato bei mir - ich wähnte mich
auch im Besitz des zumindest moralischen Rechts, als Autor
für die Endfassung eines Textes (mit)verantwortlich zu sein.
Aber dieses Recht hattet Ihr mir am Tage des Probenbeginns schon
aus der Hand gerissen. Und für mich war das eine brutale Erfahrung.
Daß mir soetwas bei den bisherigen Inszenierungen meiner Stücke
durch andere Regisseure noch nicht passiert ist, ist die eine Sache.
Die andere ist die Tatsache, daß der einzige Ausweis des Autors
für das, was letztendlich auf der Bühne verhandelt wird,
das Wort ist.
Sein eigenes! Und nicht das von besserwissenden Autorenrettern klammheimlich
korrigierte, von jenen geschäftigen Vätern, die in Wirklichkeit
nur sich selbst retten wollen, weil sie den Weg des geringsten Widerstandes
hochhalten wie einen Rettungsanker, der vorsichtshalber gleich noch
als Credo für eine sogenannte dramaturgische Arbeit und als
Legitimation für die Unzulänglichkeiten aus der Vergangenheit
herhalten muß. Es bleibt dabei: Ich entschuldige mich für
den Trotz. Nur für diesen.
Ich, der Autor, hätte Euch doch noch einiges erzählen
können, wäret Ihr imstande gewesen, Euch nicht in notorisch
obsessiver, besitzergreifender Weise eines Stückes zu bemächtigen,
noch ehe der mögliche Kontrapunkt Eurer Arbeitswut, der Urheber
des Stückes, gehört wurde, speziell dann, wenn man Änderungswünsche
an seinem Text hat. In dem vorliegenden Fall und gerade nach Eurem
entsetztlich in der unverbindlichen Allgemeingültigkeit dahinschwimmenden
Brief nehme ich mir das Recht zur Behauptung, daß ich ein für
das Ergebnis Eurer Arbeit wichtiger Kontrapunkt gewesen wäre,
an dem Ihr Euch zumindest schleifen hättet können. Denn
ich habe nicht nur Kränkung anzubieten, sondern ein gehöriges
Maß an Selbstbewußtsein, das - Ihr werdet staunen! -
offen ist für jede mögliche Änderung, sofern ich sie
als Autor vertreten kann. Und daß ich jetzt stellenweise so über
Euch drüberfahre, ist das Produkt einer Manier, die nicht
ich begonnen habe! So wenig ich frei bin von Haß, sowenig kann
ich meine Lust auf Rache unterdrücken. Allerdings kann ich Euch
versprechen, daß sich letztere mit diesem Brief erschöpft
haben wird.
Es wäre alles so einfach gewesen, wenn ein mittlerweile ungeschriebenes
Gesetz bei Erstaufführungen eines lebenden Autors auch Euch
eine moralische Verpflichtung gewesen wäre. Ein kleiner Telephonanruf
in folgender größtmöglicher Kürze:
WAGNER hebt ab: Hallo, Wagner.
KUNSTLEITER am anderen Ende der Leitung, räuspert sich: Ja
Hallihallo, Grüßigott, Herr Wagner, wie geht´s,
das Wetter bei Euch im schönen Burgenland auch so mies wie bei
uns, na es ist eine Katastrophe ... usw
WAGNER irgendwann: Und, wie schaut´s aus mit dem Todestag?
KUNSTLEITER: Ja, darüber wollte ich mit Ihnen reden. Ich hätte
da einige Änderungswünsche, Kleinigkeiten, über die
ma reden sollten.
WAGNER: Gut, wo und wann treffen wir uns? Es folgt die Wahl eines
Treff- und Zeitpunktes.
Aber leider, dieses kleine Telephonat zum Tarif von S 7.80 pro Minute
von Wien nach Deutsch Kaltenbrunn hat nicht stattgefunden. Und so
konnte ich über die Bedeutung der Sprache bzw. über ihre
von mir beabsichtigte Wirkung leider kein Sterbenswörtchen verlieren.
Und muß mir jetzt, ohne daß ein einziges Argument von
mir gehört wurde, vom Oberlehrer und den braven Unterzeichnern
eine von "TV- und Kintop verdorbene Sprache" reinschieben
lassen, was ich für eine ungeheure Frechheit halte! Ich weiß zu
gut, wie Vergewaltigung und Sprache zusammenhängen! Sobald ich
Sprache am Theater verwende, spiele ich mit ihr. Und das gewiß nicht
ohne eine sehr konkrete dramaturgische Absicht. Nicht umsonst habe
ich dem Stück einen für meine Intentionen maßgebenden
Regiehinweis vorangestellt, in dem ich die tragenden Säulen
haargenau vorgezeichnet habe - nur leider wollte oder konnte Euer
Kunstleiter gerade auf diesen bis jetzt nicht eingehen, zumindest
mir gegenüber nicht:
a) Der Schnaps. Sowohl als Prinzip einer Vergeistigung - man nennt
den Schnaps, das vergorene Konzentrat der Frucht, nicht umsonst einen "Klaren",
und meine Experimente mit Schnaps sind umfangreich. Ich weiß, welche
Wirkung im Sinne einer "Klärung" er bringt, auch wenn
und gerade weil er mit großer Zielstrebigkeit auf die Katastrophe
am Ende hinsteuert, insofern ist dieses Stück unbedingt auch
eine Hommage an den Schnaps! - als auch als dramaturgischer
Zauberlehrling, in höherer Weise sogar als die schillernde graue
Eminenz des Spiels, als Medium Gottes.
b) Die Sprache. Vordergründig plakativ, jedoch so, wie ein
Plakat nicht nur deklamiert und ankündigt, sondern auch in nahezu
idealer Weise verbirgt, was es nicht preisgeben darf. Die Sprache
bedient sich immer komplizierterer architektonischer Muster, je weiter
die Enthüllung der Wahrheit voranschreitet. Versucht auf immer
gestanztere Weise nocheinmal etwas zu verhüllen, was nicht mehr
zu verhüllen ist, und irgendwann wird sie in ihrer Verzweifelung
pathetisch - oder richtiger: in ihrem Pathos verzweifelt. Das
in einer Theaterinszenierung zu entwickeln, hieße einen gewaltigen
Bereich der Sprache zu durchforsten und ihn uns als eine Wahrheit
in unserem Umgang mit ihr näherzubringen. Insoferne verwende
ich keine "von TV- und Kintop verdorbene Sprache", ich
gebrauche sie als ganz bewußt eingesetztes, überhöhtes
Mittel für ein Spiel mit unserer Sprachgebärde. Diese Sprache "reinigen" zu
wollen, hieße, sie um dieses Spiel zu betrügen. Und dann
wird ihr ganzer Aufbau läppisch! Und ich würde mir selbst
sagen: Tut mir leid, dieser Autor interessiert mich nicht. Würde
mich ein weiteres Mal auf dem Absatz umdrehen. Sicher gelassener,
denn schlechte Autoren sind keine Gefahr für mich.
c) Der gotische Bogen, ein zum Himmel fahrendes Element, das aus
dem Aneinanderlehnen von Schnaps und Sprache entsteht, aus dem Wechselspiel
von vergeistigender Klärung und noch immer versuchter sprachlicher
Verhüllung. Dieser Bogen ist das religiöse Prinzip, das
auf der unschuldigen Liebe (die unschuldig bleibt in ihrer noch so
schuldhaften Verstrickung) dieser beiden Männer liegt, aber
auch auf der rächenden Gerechtigkeit, einem universalen Gesetz,
das die beiden Frauen für sich in Anspruch nehmen.
d) Das furchtbare Lachen, wobei ich nur glaube, daß eine geniale
Inszenierung dies schaffen kann, vor allem, wenn das Lachen furchtbar
sein soll, denn hinter diesem Wort steckt das Wort "Furcht",
womit wir automatisch bei Katharsis und griechischer Tragödie
sind. (Ich halte es nebenbei für äußerst perfid,
wenn der Herr Kunstleiter nicht müde wird, dritten Personen
gegenüber zu bedeuten, der gute Herr Wagner wisse ja gar nicht,
was ihm da gelungen sei - als wäre die antike Tragödie
auf dem alleinigen Mist unseres großen Theaterlehrers gewachsen!
Ich habe mich lange genug mit einem gewissen Herrn Gottsched aus
dem 18. Jahrhundert herumgeschlagen, um an die wesentlichen Formen
dramatischer Kunst nicht wie ein unbefangener Anfänger heranzugehen,
dem dann halt zufällig etwas geglückt ist. Aber immerhin
habe ich es als gutes Omen für die Inszenierung gewertet, daß mich
der Herr Kunstleiter zumindest in der Form richtig interpretiert
hat. Daß er das Stück deshalb gleich in die Antike verlegt,
damit konnte ich freilich nicht rechnen. Dort hat es selbstverständlich
keine Geschirrspüler gegeben, weil der elektrische Strom eine
Erfindung der Neuzeit ist, aber es hat dort auch keine Franz, Karl
und Sissi gegeben, ja es ist sogar zu bezweifeln, daß die alten
Griechen ihre Nachwuchshelden "Odissi" und ihre Kretins "Mino" gerufen
hätten.
Aber ich flattere gleich mit neuem Absatz und ohne die Klammer zu
schließen weiter. In gewisser Weise sind wir noch immer bei "furchtbar
zum Lachen".
Die antike Tragödie ist für mich weniger ein Genre als
vielmehr eine Haltung in der Suche nach einem existenziellen Willen
als Autor und als Betrachter der Welt insgesamt - zumindest was dieses
Stück anlangt. Und sie ist schon deshalb kein Genre, weil sie
sich im Grunde in jedem Genre wiederfinden kann. Also auch in einem
Bauernstück. Was mich an der Vision des Kunstleiters nahezu
begeistert hat, war seine Perspektive der Zeitlosigkeit für
das, was er aus der Inszenierung herausholen wollte. Insofern hatte
ich gleich ein enormes Vertrauen zu ihm, nicht wissend, welch heimtückischer
Geist in seiner Absicht lag (denn nun muß das ganze Ding gleich
in die Antike, was ich natürlich nicht ahnen konnte, ich hätte
ihm zumindest meinen Einspruch nicht erspart!). Zeitlosigkeit am
Theater ist etwas Wunderbares. Beispielsweise liegt sie auch in einem
Stück wie "Rozznjogd" von Peter Turrini verankert.
Allerdings käme keiner auf den Gedanken, deshalb die Müllberge
streichen zu wollen oder gar die Abfallsprache (Ihr nennt sie anders, "verdorben" wie
Müll und Mist, aber das wissen wir). Zeitlosigkeit ist somit
etwas, das man erreichen muß, nicht bloß vorgeben - und
man erreicht sie gewiß nicht dadurch, daß man durch einen
bestgewißlichen, theaterhandwerklich angeblich obligatorischen
Trivialeingriff in die Sprache alles, was an die ordinäre Gegenwart
erinnert, einfach hinausexpediert! Das Verfremdende, das ja bekanntlich
auf das Eigentliche zurückführt, also die bewußte
Lüge (lat.: Fiktion), liegt ja im vorliegenden Fall gerade in
der Sprache, die den Geschirrspüler als Synonym des Selbsthasses
mit der Rache der Frauen an einer Welt, die sie demütigt,
verbindet. Oder verbinden kann, wenn man sich die Mühe macht,
dies als ein mentales Kapital für die Inszenierung zu erarbeiten.
Leider habe ich bis jetzt keine Möglichkeit, auf die textlichen
Veränderung etwas detaillierter einzugehen, ich habe noch immer
kein Manuskript der bearbeiteten Fassung, obwohl ich wiederholte
Male darum gebeten habe. (Nur um mir den Vorwurf zu ersparen, ich
hätte mich nicht darum gekümmert.)
Insofern kann es mir gar nicht nur um eine Kritik an Eurer dramaturgischen
Arbeit gehen, sondern um ein Prinzip des Umgangs mit einem Stück,
dessen Autor noch unter den Lebenden weilt und auch jederzeit ohne
Anstrengung telephonisch erreichbar ist -
sieht man jetzt einmal davon ab, daß ich vielleicht
auch bezüglich der Gerüchte über Eure Veränderungen
rotiere, denn das, was ich auf jener, mit einer fremden Maschine
geschriebenen Seite gelesen habe, hat mich ziemlich alarmiert. Plötzlich
wird da in einer Sprache, die ich nicht als die meine erkannte, eine völlig
andere, grausam trivialisierte, mitleidheischende Geschichte erzählt,
eine andere jedenfalls als die, die ich den Franz erzählen
lasse: die eines neuerlichen (sprachlichen) Verhüllungsaktes
hinter einer tatsächlich aus der Trivialpsychologie übernommenen Sprachmanier,
die ihn nocheinmal retten soll. Und nur das ist es, was Franz in
dieser Passage erzählt, und damit erzählt er etwas von
sich selbst und der gesteigerten Not, in der er sich befindet; der
Inhalt seiner Geschichte ist daneben völlig uninteressant und
eigentlich nur Vorwand, aber als solcher unerläßlich!
Und doch noch ein Wort zu Pipi. Auch sein Name ist nicht zufällig
gewählt. Und ich würde sagen, daß die eigenmächtige Änderung
seines Namens am unverhülltesten in die Urheberrechte seines
Erfinders eingreift, was nicht mehr mit einer Inszenierungsnotwendigkeit
zu tun hat, sondern mit einer unerlaubten urheberrechtlichen Besitzübernahme
im Sinne eines Raubes, den man durch eine Umetikettierung zu legitimieren
versucht. Selbstverständlich soll gerade diese Figur alle Freiheiten
für eine Interpretation offen halten, sie ist der essentielle
Brennpunkt, ja Mentor des Stücks überhaupt. Dennoch wäre
es falsch, Pipi nicht auch als Figur zu sehen, was Ihr selbstverständlich
tut - aber ihm den Namen wegzunehmen heißt, ihm einen Teil
seiner Wirklichkeit zu nehmen, um die ich als Autor gerungen habe,
lange bevor Ihr Euch drübermachen konntet: die eines körperlich
erwachsenwerdenden Bettnässers, der sich in seinem Innersten
weigert, erwachsen zu werden, weil er mit dem unfehlbaren Instinkt
des Kindes Angst vor der erwachsenen Welt hat. Er sieht sie täglich
durch die Ritzen seines Verschlages. Pipi als zärtliches Synonym
für die mitunter auch so verlorene, einsame Welt und Seele der
Kinder einem lachhaft plumpen "Mino" zu opfern, halte ich
für einen Vandalenakt. Die Vorstellung, beim Publikum als Autor
für diese dreiste Dummheit herhalten zu müssen, läßt
mich jetzt schon in den Erdboden versinken. Und wie ist das nun,
wenn es stimmt, was mein paranoides Ohr vernommen hat: Soll Pipi
am Ende tatsächlich etwas sagen? Ihr erklärt mir in Eurem
Brief, daß eine Geste eines Darstellers ganze Seiten überflüssig
machen kann. Ich halte es für bedenklich im kreativen Sinn und
verlogen im dramturgischen, wenn der ohnedies abgeschmackte, unoriginelle
Aha-Effekt entsteht, der Kretin sei ja in Wirklichkeit gar keiner,
er könne ja doch reden, hätte somit soetwas wie ein Bewußtsein
auf alle Vorgänge rund um sich. Mein Gott, wie feige stiehlt
man sich da nicht nur vor der tiefen Wahrheit einer radikalen Sprachverweigerung,
sondern vor allem vor der Aufgabe der Inszenierung davon, über den
Gestus der Figur - in den Körper des Schauspieler hineingegeben
- die tragische Freiheit zum Selbstopfer zu entwickeln. Im
Gegensatz zu der Figur des Indianers in "Einer flog über
das Kuckucksnest", der im Augenblick des Ausbruches aus dieser
Gesellschaft zur Sprache findet, ist Pipi derjenige, der sich seinem
Schicksal hingibt, einbricht, sich opfert, und es wäre in einem
fatalen Sinn befreiend für den Zuseher, würde er auch nur
durch ein einziges Wort aus Pipis Mund von der Mitschuld an seinem
Tod befreit. Für mich wäre das der Betrug an der Katharsis,
man hätte sie verschleudert zugunsten eines vordergründigen,
erleichterten Verständnisses. Warum habt ihr der Figur nicht überhaupt
gleich den Namen "Felix" (wie Mitterer) verpaßt?
Jetzt erst schließe ich die Klammer.)
Wie auch immer. Der Brief hat mir geholfen, meinen Trotz zu überwinden.
Mein Haß auf Euch alle bleibt. Er tut mir selbst weh, und ich
will auch, daß er mir wehtut. Er ist das Erlebnis, das mir
jetzt übrig bleibt. Was Ihr damit tut und ob Ihr etwas damit
tut, bleibt Eure Sache. Ich gebe Euch das Stück, ich habe es
ohnehin schon verloren. Und ich kann es Euch nur voll Haß hinschleudern,
denn Ihr habt Besitz ergriffen, und es gehört nun tatsächlich
Euch. Irgendwann hätte der Punkt sowieso kommen müssen,
nur hätte ich mir wahrscheinlich in der Pose desjenigen gefallen,
der Euch das Stück nicht hinschleudert, sondern schenkt. Ihr
habt keine Ahnung, wie gerne ich auf jeden von Euch, auf jedes Argument
zugegangen wäre, wie gerne ich Dinge, die mir einleuchten, geändert
hätte, von mir aus mit Euch gemeinsam. Ich hätte lernen
können von Euch, Ihr hättet lernen können von mir.
Aber wie mir von vielen Menschen, die ebenfalls im Theater alt geworden
sind, bestätigt wurde, ist der Umgang, den Ihr Euch mit dem
Autor geleistet habt, nicht nur anachronistisch, sondern in gewisser
Weise demütigend und verächtlich. Ich bin mir allerdings
sicher, daß Ihr Euch dessen gar nicht bewußt gewesen
seid. Und noch immer nicht seid. Allerdings befreit Euch das nicht
von meinem Vorwurf. Auch könnt Ihr mich jetzt gerne als ein
wütend um sich schlagendes Kind bezeichnen, das jegliches Benehmen
verliert, nachdem es aus dem Schlafgemach der Eltern verjagt wurde,
das macht mir nichts. Ich stehe dazu. Ihr würdet es Euch allerdings
etwas zu einfach machen, mich bloß als einen zu sehen, der "lachhafterweise
darauf bestehen will, daß erkannte Fehler justament nicht korrigiert
werden." Es täte Euch vielleicht auch nicht schlecht zu
begreifen, daß jeder Eingriff in einen Text, der nicht durch
die Zusage seines Urhebers legitimiert ist, und vor allem auch dann,
wenn dieser noch lebt, ein fundamentales Recht verletzt. Und da ist
es mir wurscht, ob sich der Täter auf eine jahrtausendelange
Tradition beruft.
Nehmt es also. Arbeitet, denn Arbeit ist etwas Schönes. Wir
haben miteinander nichts mehr zu tun. Und auch das wird gut sein
so, speziell nachdem ich es akzeptiert habe. Und ich habe es akzeptiert.
Meine einzige Bedingung, die Ihr mir fairerweise als Selbstverteidigungsrecht
des Autors hoffentlich erfüllen werdet: Ich möchte unsere
beiden Briefe als eine Art "Vorspiel im Anhang" der Buchausgabe
beigeben. Ich glaube, sie erzählen einiges über das Theater.
Und das ist alles andere als polemisch gemeint.
Alles Gute
Peter W., e.h.
p.s.: Ich lege dem Brief eine Kopie des Eurigen bei, damit Ihr nachlesen
könnt, was Ihr unterschrieben habt. Besonders die Passage über
die "Eliminierung ... eingeflossener Un-wörter" hat
mir die Gänsehaut über den Rücken gejagt.
Außerdem weiß ich nicht, welchem Jahrhundert die Formulierung: "...
sinnwidrig gewordenen Vokabulars, etwa aus der Vulgär-Psychologie
oder des westlichen Marketings, sind für professionelle Schauspieler
natürlich nicht mehr ´rollenidentisch´ und ausschließlich
aus diesem Grunde auch nicht mehr künstlerisch verantwortbar.
Deshalb wurde richtiggestellt(!)." entlehnt ist. Jedenfalls
handelt es sich um eine wunderschön makabre Blüte. Ihr
solltet selbst Stücke schreiben und dann das sinnwidrig gewordene
Vokabular richtigstellen. Auch stumme Stücke haben bekanntlich
ihren Reiz.
Verlag Thomas Sessler
Johannesgasse 12
1010 Wien
Herrn
Conny Hannes Meyer
Stiegengasse 7
1060 Wien
Wien, 18. Februar 1993
Fe/h
Lieber Herr Meyer!
Sie wissen vielleicht nicht, daß Peter Wagner auch mit seinem
Stück TODESTAG von uns vertreten wird. Ich habe ja seine LAFNITZ,
MÜHLE, DIE NACKTEN und MUNDO PERDIDO von Anfang an betreut.
Wir reden einfach über jedes neue Stück lange, sind uns
aber immer im Wort.
Er hat mir auch gleich zu Beginn und mit viel Freude berichtet,
daß Sie sein Stück TODESTAG mit der Uraufführung
inszenieren werden. Vor mir liegen Ihre "Gedanken" zu Peter
Wagners TODESTAG. Für Sie steht das Stück offenbar und
völlig zurecht im großen Zusammenhang der existenziell-antiken
Tragödien. Ganz richtig bezeichnen Sie die Dramaturgie Wagners
als volksnah, jedoch kein dumpfes Blut und Boden-Drama, sondern als
Beschreibung von hoffnungslosem Fatalismus schicksalsbestimmter Geschöpfe.
Peter Wagner stimmt Ihnen auch hierin absolut zu.
Nicht richtig kann es sein, wenn der Regisseur der Uraufführung
eines zeitgenössischen Stückes (eines lebenden Autors!)
in den Text vehement eingreift ohne Zustimmung des Autors. Letztlich
wird das Ergebnis Ihrer Arbeit dem Autor zugeschrieben, und er ist
der Letztverantwortliche für jedes Wort, das auf der Bühne
gesprochen wird. Selbstverständlich ist die Absicht und Intention
des Regisseurs wesentlich und zu respektieren, Text und Inhalt kommen
aber vom Autor.
Ich bitte Sie also, in diesem frühem Stadium - die Uraufführung
ist meines Wissens am 24. März d.J. - undbedingt das Gespräch
mit dem Autor zu suchen und allfällige Mißverständnisse
und Kränkungen jetzt zu klären.
Es muß der Sinn der gemeinsamen Arbeit von Autor, Regisseur
und Verlag sein, ein Produkt vorzuzeigen, hinter dem alle stehen.
Mit der Bitte um Anruf und
besten Grüßen
Eva Feitzinger, e.h.
|
 |
 |
 |
|
  |