Textauszug
„März.
Der 24.“
von Peter Wagner
AUFZEICHNUNG
AUF VIMEO (96 min)

21
(Podezin und die Gräfin an einem geöffneten Fenster im Schloß.
Er trinkt hin und wieder von einer Schnapsflasche.
An einer anderen
Seite tanzen Oldenburg und die Stadler in stummer Gebärde.
Die Musik fehlt.
Der Graf geht - mit dem Sektglas in der Hand -
in der gegenläufigen
Richtung zu Ziserl mit diesem an jener imaginären Grube auf und ab.
Pagani zielt mit dem Suchscheinwerfer in die Grube hinunter. Anna verschlingt
die Reste des Essens und schleckt sogar die Teller ab, während Mizzi
genüßlich in sich hineinstopft.)
GRÄFIN Wie still es plötzlich ist. Keine Blitze mehr am Horizont.
Was hat das zu bedeuten?
PODEZIN Nichts.
GRÄFIN Die Ruhe vor dem Sturm?
PODEZIN Es gibt nichts, das etwas zu bedeuten hätte.
GRÄFIN Es gibt uns. Ist das nichts?
PODEZIN Nein, es gibt auch uns nicht.
GRÄFIN Irgendetwas muss es geben. Sonst wären wir nicht.
PODEZIN Es gibt nur die Nacht.
GRÄFIN Die Nacht ...
PODEZIN Sie ist wie ein tiefes schwarzes Loch, in das alles hineinfällt.
Von einer Geige umrandet.
GRÄFIN Sah ein Knab ein Röslein stehn ...

PODEZIN Ich rieche das Loch.
GRÄFIN Es ist der Frühling, der so duftet.
PODEZIN Es stinkt nach verfaultem Blut.
GRÄFIN ... Röslein auf der Heiden, war so jung und morgenschön.
Weiter!
PODEZIN Nichts weiter.
GRÄFIN Das war alles?
PODEZIN Es gibt nur die Nacht. Den Tag, es hat ihn nie gegeben.
GRÄFIN Es ist eine billige Form der Markierung, ein blaues Auge.
PODEZIN Wie willst du es haben?
GRÄFIN Nicht so. Das wäre mir zu wenig.
PODEZIN Den Tag, es hat ihn nie gegeben.
GRÄFIN Nur die Nacht.
PODEZIN Und die schwarze Erde.
GRÄFIN Weiter!
PODEZIN Die schwarze Nacht und schwarze Erde: das schwarze Loch, in das
alles hineinfällt.
GRÄFIN Weiter!
PODEZIN(säuft, flößt auch der Gräfin Schnaps ein;
schiebt ihr dann die Flasche zwischen die Beine.) Irgendwann hat der
Krieg Arschlöcher gebraucht. Ja?
GRÄFIN Ja.
PODEZIN Da waren sie zur Stelle. Ja?
GRÄFIN Ja. Der Krieg bekommt immer, was er braucht.
PODEZIN Arschlöcher wie mich. Ja?
GRÄFIN Weiter!
PODEZIN Der Krieg bekommt die Leute nicht nur, er richtet sie sich auch
immer so her, wie er sie braucht. Ja?
GRÄFIN Weiter!
PODEZIN So wie du! Auch du richtest dir die Leute immer so her, wie du sie
haben möchtest. Ja?
GRÄFIN Weiter!
PODEZIN Du bist der Krieg ...
GRÄFIN Weiter!

PODEZIN Du bist das Loch, in das alles hineinfällt.
GRÄFIN Weiter!
PODEZIN In dich spritzt das Blut hinein, du Loch, du unersättliches,
stinkendes Loch!
(Er zieht die Flasche zwischen den Beinen der Gräfin hervor. Säuft.
Schiebt auch ihr die Flasche in den Mund.)
GRÄFIN Weiter!
PODEZIN Sie werden mich verfolgen. Sie werden mich durch die Nächte
hetzen und durch die Tage. Das Arschloch, das der Krieg gebraucht hat, solange
es einen Krieg gegeben hat. Und das der Krieg weggeschmissen hat wie eine
leere Patronenhülse, nachdem er sich ausradiert hat in einem Akt der
Selbsterkenntnis. (Säuft. Schiebt auch ihr die Flasche in den Mund.) Ja?
GRÄFIN Ja, weiter!
PODEZIN Sie werden überall nach meinen Spuren suchen, in die Häuser
werden sie eindringen und fragen: Wo ist Podezin! Wer hat ihn zuletzt gesehen!
Wer kann seine Gesichtszüge beschreiben, die Farbe seiner Augen, den
Glanz seines Haars? Haben seine Hände gezittert, wenn er die Pistole
an den Nacken eines Delinquenten setzte? Hat er seine Stiefel dabei dreckig
gemacht? Wie weit ging er rein in den Dreck, in dem er doch zu wühlen
liebte, er, der sich selbst einen Maulwurf nannte und den Feind des Tageslichts?!
Ja?
GRÄFIN Ja!
(Er säuft. Und schiebt auch ihr die Flasche in den Mund.)
PODEZIN Sie werden suchen nach einem Mann, der aussieht wie jenes
Bild in der Zeitung, der Mann, nachdem man fahndet und den man einen Mörder
nennen wird. Man wird erzählen, dass er die Kinder schwarze fette Erde
fressen hat lassen, um sie abzuhärten, wie er selbst am liebsten Tag
und Nacht Erde gefressen hätte in seiner Sucht nach dem schwarzen Loch
der schwarzen Nacht. Man wird wissen wollen, ob er sich das Blut, das ihm
vom Hinterkopf des Delinquenten entgegenspritzte, mit der Hand aus dem Gesicht
wischte, oder ob er sich dazu eines Taschentuchs bediente. Man wird wissen
wollen, wie hoch der Tagesdurchschnitt derer war, die er eigenhändig
erschoss. Man wird wissen wollen, ob sein Hemd immer tadellos gebügelt
war und ob er einen Ring am Finger trug. Welche Pferde er bevorzugte, welche
Kraftfahrzeuge, welche Flugzeuge. Ob er filterlos rauchte und Wein oder Schnaps
trank. Man wird wissen wollen, welches Arschpapier er benutzte und welches
Rasierwasser. Liebte er nicht Vanillepudding mit Weichselsaft? Sah er nicht
den jungen Mädchen auf der Straße nach? Und wählte er nicht
Schwarz und Rot und Blau? Ja?
GRÄFIN Ja! Weiter!
(Er säuft. Schiebt auch ihr die Flasche in den Mund ein.)

PODEZIN Und irgendwann wird irgendjemand wissen wollen, ob dieses gesuchte
und niemals gefundene Monstrum nicht vielleicht ein ganz normaler Mensch
gewesen ist. Einer wie jener, der dort drüben über die Straße
geht. An dessen Äußerem schon alles nichts als beschämend
durchschnittlich ist. Der freundliche Herr mit der Sonnenbrille, dessen Hand,
die den Spazierstock hält, ein wenig zittert. Ein wenig nur, aber merklich
doch.
GRÄFIN Nicht so! Ich hasse Weinerlichkeit. Ich hasse nichts so sehr
wie Weinerlichkeit!
PODEZIN Podezin, das Kind.
GRÄFIN Nein, hör auf damit ...
PODEZIN Kein Kind?
GRÄFIN Nein, mit diesen Phantasien darf sich deine kleine Sekretärin
herumschlagen.
PODEZIN Wenn kein Kind, was dann? Wie willst du mich haben?
GRÄFIN Wie du bist.
PODEZIN Wie bin ich?
GRÄFIN Hör auf damit. Du musst es mir zeigen, nicht ich dir!
PODEZIN Gut, ich bin ein Beamter, Oldenburg Zwei, nur mit einer Pistole
statt einer Füllfeder versehen.
GRÄFIN Podezin, die Wahrheit! Nicht irgendeine Spielerei!
PODEZIN Spielerei, so!
GRÄFIN Du wüsstest den besonderen Charakter dieses Festes zu schätzen,
das dachte ich.
PODEZIN Du denkst, du denkst! Es ist mir scheißegal, was du denkst,
du Loch!
GRÄFIN Ja, weiter!
PODEZIN Nichts weiter. (Er wird brutal.) Noch einmal: ich bin nicht
dein Hampelmann!
GRÄFIN Weiter!
PODEZIN Ich bin ein Prolet!
GRÄFIN Weiter!
PODEZIN(nimmt sie nun sehr brutal.) Du verdammtes Loch. Ich werde
dich markieren, ich werde dich markieren, dass du dein Leben nicht mehr loskommst
davon!
(Sie küssen sich.
Anna räuspert sich.
GRÄFIN Verschwinde, dumme Gans!
ANNA (macht einen Knicks.) Ein dringender Anruf für den Herrn
Obersturmführer. (Anna geht ab.)
GRÄFIN Geh nicht, bleib hier, ich lass dich nicht fort! Nicht jetzt!

Podezin Bin sofort wieder hier.
GRÄFIN (hängt sich an ihn.) Bleib, bitte! Das kann nicht
alles gewesen sein!
PODEZIN Im Gegenteil, das war der Anfang.
GRÄFIN Versprochen?
PODEZIN Du kennst mich nicht, wie?
GRÄFIN Nein, ich kenne dich nicht. Aber ich möchte dich kennen,
ganz! Und heute noch!
(Sie küssen sich.)
PODEZIN Warte hier.
(Podezin geht.
Die Gräfin zündet sich eine Zigarette an. Raucht. Öffnet
die Haare. Summt das Heidenröslein.)

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