|
 |
 |
Die Kardinälin
Eine Ohnmacht
Stück für Bühne und ein abgestelltes Subjekt
von Peter Wagner
2005/2010
Uraufführung 2010
Ausschnitt
auf YouTube

Eine Produktion des Klagenfurter Ensembles
in Zusammenarbeit mit dem Offenen Haus Oberwart
Die Kardinälin: Heinrich Baumgartner
Noch Jemand: Erich Pacher
Inszenierung, Bühne und Musik: Peter Wagner
Fotos: Günter Jagoutz

So erklärte der Papst vor Zehntausenden
Menschen, der Glaube verleihe den Mut, sich "nicht von dem
kleinlichen Klatsch der vorherrschenden Meinung einschüchtern
zu lassen". Zudem sprach das Oberhaupt der Katholischen Kirche
davon, wie Menschen manchmal "auf die niedrigsten, vulgärsten
Ebenen" herabfallen könnten.
ORF.at, 28. März 2010
Die Kardinälin sitzt im Rollstuhl. Sie ist ein Mann, der es
innerhalb der kirchlichen Hierarchien bis zur Erhebung in den Kardinalstand
gebracht hat. Lange davor hatte er von seinen Zöglingen im
Seminar den Beinamen Die Kardinälin erhalten.
"Das Gehen und das Knirschen der Schuhe. Wie bei der Schwester
Oberin, die fast die gleichen Schuhe hatte wie ich. Und doch ganz
anders. Ich war nicht die Schwester Oberin, ich war die Kardinälin!
Das war allerdings ein Unterschied, man konnte es am Knirschen unserer
Schuhe ausmachen. (...) Kchch ... kchch ... kchch ... kchch ...
Die Gänge der Schule waren wie automatisch leergefegt, schon
wenn sich mein Kommen auch nur ankündigte. Kchch ... kchch
... kchch ... kchch ... die Kardinälin, überall hörte
man das Flüstern, die Kardinälin! ...."
Nun aber ist er innerhalb der Kirchenhierarchie in Ungnade gefallen,
nicht einmal Ratzinger scheint noch hinter ihm zu stehen, obwohl
er sich lange unter dessen schützender Hand wähnen durfte.
St. Pölten kann ihm auch nicht helfen und der neue Erzbischof
von Wien, sein direkter Nachfolger, hat ihn nach zunehmendem öffentlichen
Druck aus dem Verkehr ziehen lassen. Unter der Obhut einer Ordensschwester
verbringt er die Tage in irgendeinem fernen Kloster, gefangen im
Rollstuhl, der sich in keine Richtung mehr bewegt, dem Windhauch
durch das geöffnete Fensters ausgesetzt, der neben der Gefahr
für seine Gesundheit jede Menge unaufgearbeiteter Erinnerung
daherweht.
"Es zieht, machen Sie das Fenster zu! Wenn man mich hier
schon einsperrt wie einen entmündigten Idioten, so gönne
man mir wenigstens das Privileg einer geschlossenen Zelle. Ich brauche
keine frische Luft. Frische Luft ist schädlich für das
Nervensystem. Ich hasse unkontrollierte Bewegung."
Hier, alleine mit sich und wohl auch im Angesicht des Todes, strömt
die Erinnerung beinahe körperlich durch seine im Rollstuhl
gefangene Existenz. Immer wieder versucht er die direkte Ansprache
an Gott, in dessen Gnade er sich weiß, wissen will. Und doch
ist dieses Wissen durchspickt von Zweifel.
"Herr, ich bin der in den Staub geworfene Wurm! Ich bin nichts.
Gezeugt in der Sünde, geboren in der Sünde. Zeitlebens
habe ich Dich zu den Menschen gebracht. Habe ich die Menschen zu
Dir gebracht. Du allein weißt um mein Opfer. Du allein wirst
es erkennen. Du allein!"
Ohne dass er dies zugeben würde – denn tatsächlich
befindet er sich in steter, aggressiver Selbstverteidigung -, scheint
ihn die öffentliche Erregung zu beschäftigen, die sein
angeblicher Fall verursacht hat und der seitdem wie ein Damoklesschwert
nicht nur über ihm, sondern über der Mutter Kirche hängt.
Einer Mutter, als deren eigentlicher und letzter aufrechter Repräsentant
er sich selbst fühlt und erlebt.
"Sexueller Missbrauch. Krankhafte Schlagwörter.
Die schlagen sollen. Dass ich nicht lache! So sehen sie aus, ihre
gedanklichen Bollwerke. Ihre verbalen Waffenarsenale. Sie glauben
allen Ernstes, sie könnten mir damit Schaden zufügen!
Alles giert nach einem Schlagwort wie Sexueller Missbrauch.
Geistlose Diktion, fern auch nur der geringsten Wahrheit, pfui Teufel."
Einer der von ihm so sehr geliebten Zöglinge, die er –
seiner gedanklichen Disposition nach – alle zum Herrn gebracht
und teilweise auch zu Christus gemacht hat, durchaus auch in zärtlicher
körperlicher Begegnung, ist nach Jahrzehnten an die Öffentlichkeit
gegangen und hat damit auch die kirchliche Basis auf den Plan gerufen,
wie dies überhaupt noch nie in der Geschichte der katholischen
Kirche der Fall gewesen ist.
"Sie tragen nichts, die bischöflichen Eminenzen. Sie
lassen mich hier sterben, abgestellt. Kriechend in Anbetracht der
Begehrlichkeit von Laien! Von notorischen Kleingeister, denen das
Evangelium seit Anbeginn eine Nummer zu groß ist. Die plötzlich
eine Chance wittern, ihre Infantilität, ihren demokratischen
Unsinn auszutoben, der die Hierarchie Gottes völlig verkennt.
Plötzlich eine Rolle spielen. Plötzlich das System in
Frage stellen, gar die Kirche selbst, die einzige und wahre Muttermacht!
Wegen ein paar Knabenpopos. Macht und Gesetz der Mutter sind niemals
relativierbar. Niemals!"
Zwischen seinen Verschwörungstheorien und den Tiraden gegen
all jene, die der Mutter Kirche am Zeug flicken wollen - wovon er
auch die höchsten Kirchenkreise nicht ausschließt -,
verfällt er in den verzweifelten Erinnerungshunger desjenigen,
der Liebe verteilt und erfahren hat.
"Aber lass mich vorher noch einmal in die Augen des Knaben
sehen, der mich gefangen hält. In die Augen, die tief und rein
sind wie das sinnende Wasser im Gebirge deiner Schöpfung. (...)
Ich spreche nicht von der Sünde, Herr. Ich spreche von ihrem
Fingerabdruck. Einem Knabenpopo. Von Berührung, wie sie kostbarer
nicht sein könnte. Verschmelzung. Der Leib Christi. Rettung
von der Ursünde einer Hure."
Das eigentliche Opfer, so sieht er es, ist er selbst.
"Es war nicht ich, der sie verführt hat. Es waren sie,
die mich verführten. (Verzweifelt.)
Mit ihren Augen. Mit ihrem Augenaufschlag. Mit ihren Lippen. Mit
der Ahnung von Flaum auf den Lippen. Mit den zart vibrierenden Nasenflügeln.
Mit den brechenden, durch das Beichtstuhlgehölz abgedämpften
Stimmen. Mit Kehlen voller Reinheit, deren eine einzige ganze Kirchenschiffe
füllt und Gott in ihnen klingen lässt. Mit ihren Händen
und Bewegungen! Selbst noch mit einem zarten Anflug von Schwarz
unter den Fingernägeln. Die Geschöpfe eines ewig verliebten
Gottes. Kein einziger wurde missbraucht, wir haben unserem verliebten
Gott gehuldigt. In höchster Liebe!"

Die Welt aber verhält sich gnadenlos zu ihm und verkennt
beharrlich seinen Auftrag, die Menschen Gott zuzuführen, auch
über den Maßstab der körperlichen Gebundenheit.
Am Ende scheint er zu resignieren, noch immer nicht fähig zu
so etwas wie einem Schuldbekenntnis, das ihn retten könnte.
Trotzig hält er an seinem Missionsplan, in dem Machtbedürfnis
und Übergriff nicht voneinander zu unterscheiden sind, fest.
Er entschließt sich, gestützt auf die Bibel, fortan überhaupt
zu schweigen.
" Ich schweige. ... Schon ist er weg, der falsche Ton. Schon
sind sie weg, die Hühner. Schon hat die Stille das Kreischen
der Huren geschluckt. Die Welt, die Hure. Der Lärm, die Hure.
Babylon, das Computergeplärre, das meinen Liebsten unter sich
zermalmt hat. Ich trauere um Dich, mein Emmanuel, du göttliches
Kind. Ich bete zu Gott. Herr, du bist der Luxus in diesem Getümmel,
der einzig wahre Luxus. Du schweigst. Ich schweige.
Dass ihr endlich schweigen wolltet. Das würde Weisheit für
euch sein. (Hb 13,5)"
Zuletzt bleibt ihm nur noch die Zuflucht zu Maria, der Mutter
Gottes – mit der er sich allerdings auf einer Stufe wähnt.
Denn auch sie ist seiner lebenslangen Aufbauarbeit zufolge nichts
anderes als ein Geschöpf Gottes, das zwar als Mutter des Gottessohnes
Respekt und Liebe verdient, nicht aber mit Gott selbst gleichgestellt
werden darf.
"Ich muss noch ein Buch schreiben. Ich bin zäher, als
euch das lieb sein kann. Ein Buch über Maria im Geheimnis Jesu
Christi. Ich werde euch die Reinheit meiner Liebe vor Augen führen.
Niemand wird weiterhin behaupten können, ich hätte mich
an Knabenpopos vergriffen aus fleischlicher Begierde. Ich war immer
nur die Vermittlung. Wie Maria, die himmlische Jungfrau. Immer nur
die Mittlerin. Maria und ich, wir wissen uns auf der Seite des wahren
Gottes. Ich habe ihr eine Legion aufgebaut, meinen Dienst in ihren
Dienst gestellt."
Bis zuletzt bleibt er trotzig,
"Sie haben es darauf abgesehen, mich hier umkommen zu lassen
als gefallenen Engel. Als Weib!! Aber ich bin nicht das Weib! Ich
bin die Frau! Die Herrin! Die Mutter Gottes! Das Gefäß,
in dem Er, der Erlöser, wächst und gedeiht."

um im letzten Atemzug zu resümieren:
"Wie ich bin, bin ich aus mir.
Ich danke mir. Der Mutter Gottes."
„Haben Sie, als er mit Ihnen im selben Haus lebte, Herrn E.,
damals Novize, zu Homosexualität verführt? Ja oder nein?
Haben Sie sich gegenseitig den Popo geküsst – ja oder
nein? Haben Sie ihm auf den Hoden gegriffen und zu ihm gesagt: >Lass
den Samen nicht fließen<? Was soll denn dieser mit dem 6.
Gebot so sehr geplagte Novize machen, wenn sein kirchlich Vorgesetzter
ihn dazu verführt, was er zuerst bis zur Blödsinnigkeit
immer wieder beichtet. Haben Sie nicht gesehen, dass er die Art ihrer
Behandlung nicht verkraftet? Was haben Sie getan!“
Aus einem Brief von Gunthild Ritschl an Kardinal Hans Hermann Groer,
zitiert nach "Hubertus Czernin: Das Buch Groer"
Briefwechsel zwischen Erzabt Edmund Wagenhofer
und Peter Wagner
anlässlich der Uraufführung "Die Kardinälin
- Eine Ohnmacht" am klagenfurter ensemble
Brief von Erzabt Edmund Wagenhofer vom 15. Mai 2010
Sehr geehrter Herr Wagner!
Gestern abends habe ich in Klagenfurt die Aufführung Ihres
Theaterstückes „Die Kardinälin“ besucht. Ich
bin eigens von Maribor nach Klagenfurt gefahren, um nach der Lektüre
einer Besprechung in der Presse mir selbst ein Bild zu machen, wie
Sie das heikle Thema behandeln. Ich bin als emeritierter Erzabt
nicht mehr an vorderster Front, als Glied der Kirche aber an der
Aufarbeitung des derzeit viel diskutierten Themas sexuellen Missbrauchs
durch kirchliche Amtsträger sehr interessiert. Es interessierte
mich, wie Sie das Thema literarisch behandeln. Ich muss vorweg schicken,
dass ich die „Kardinälin“ persönlich kannte
und ich viel darüber nachgedacht habe, warum es keine Einsicht
bei ihm gab, vermutlich auch nicht im letzten Augenblick seines
Lebens.
Sie lassen in Ihrem Stück den Sterbenden die Jahre seines Lebens
in einem Monolog Revue passieren. Sie zeigen in Worten und in der
Regie eindrucksvoll den inneren Zwiespalt dieses Menschen auf. Sein
Alleinsein lässt ihn immer wieder um sich selbst kreisen. Das
„Gegacker“ draussen wird als störend empfunden,
die Begegnung mit einem ehemaligen Opfer verführt ihn, Vergangenes
wieder neu in die Gegenwart zurückzuholen. Schriftworte erhöhen
den Leidensdruck, die theologische Sicht verbrämt kriminelle
Fakten. „Kein einziger wurde missbraucht, wir haben unserem
verliebten Gott gehuldigt in höchster Liebe.“ Gerade
Letzteres haben Sie als eigentlichen Grund der Unfähigkeit
des Erkennens von Fehlverhalten herausgearbeitet: die „Kardinälin“
glaubt sogar etwas Gutes getan zu haben. Sündhaftem Treiben
wird der Makel der Sündhaftigkeit weggenommen, so dass dieses
in verklärtem Licht erstrahlt. Ich glaube, Sie haben da etwas
ganz Wesentliches erkannt und dies deckt sich auch mit meiner Sicht.
Dass es sich dabei aber bei der „Kardinälin“ um
eine Selbstrechtfertigung handelt, kann von „ihr“ nicht
mehr erkannt werden, weil das eigene Gewissen durch ständiges
Handeln verändert worden ist und das eigene Handeln nur mehr
mit Gott ausgehandelt wird. Daran kann kein Mensch und kein Gericht
etwas ändern. Solches Einschreiten wird als Versuch der Zerstörung
der eigenen Lebensgrundlage gesehen.
Diese Deutung unbelehrbaren Verhaltens kann ich aus der Erfahrung
in einem anderen Fall, mit dem ich es zu tun hatte, nur bestätigen.
Die Kirche müsste m. E. intensiv erforschen, wo die Wurzeln
eines solchen Fehlverhaltens liegen, um weitere Missbräuche
zu verhindern. Sind es vielleicht biblische Geschichten mit dem
Inhalt, dass Gott auch aus bösen Taten Gutes entstehen lassen
kann (Verkauf des Josef durch seine Brüder und die Rettung
Israels aus der Hungersnot im AT; die Kreuzigung Jesu und das daraus
fließende Heil im NT)? Auch wenn in der Heilsgeschichte die
Untat der Brüder Josefs durch Gottes Fügung zu einem Handeln
Gottes geführt hat, welches als Heilstat (Rettung Israels)
bezeichnet werden kann, bleibt die Untat der Brüder eine Untat,
die nicht zu rechtfertigen ist.
Kritisch sehe ich den Schluss Ihres Stückes. Da Sie sonst ein
sehr gutes Insiderwissen haben und Sie sich an Fakten halten, stelle
ich die Frage: woher haben sie Aussagen von der „Kardinälin“,
dass sie sich selbst als Mutter Gottes sieht? „Ich danke mir.
Der wahren Mutter Gottes.“ Wie kommen Sie zu so einer Feststellung?
Während Ihr Stück sonst die konkrete Person im Auge hat,
die hinter der „Kardinälin“ steht, verlassen Sie
hier dieses Bemühen. Der Zuseher geht aber davon aus, dass
auch das auf die konkrete Person zu beziehen ist.
Schade finde ich auch, dass die Möglichkeit einer doch vorhandenen
Erkenntnis im letzten Augenblick des Lebens in Ihrem Stück
nicht einmal angedeutet wird. Niemand von uns weiss, ob es diese
Erkenntnis bei der konkreten Person nicht doch noch gegeben hat.
Ich jedenfalls bete immer wieder um die Gnade (das ist es für
mich), dass ich rechtzeitig, wenigstens aber im letzten Augenblick
meines Lebens noch erkennen kann, was ich grundlegend falsch gemacht
habe, um dies noch als hier auf Erden lebender Mensch bereuen zu
können. Eine Andeutung in diese Richtung hätte dem Stück
nicht geschadet. So fiel es mir schwer, am Schluss des Stückes
auf die letzten Worte „Wie ich bin, bin ich nur aus mir. Ich
danke mir. Der wahren Mutter Gottes.“ zu applaudieren.
P.S.: Der Leiter des Theaters in Klagenfurt hat mich ermutigt, Ihnen
zu schreiben.
Antwort von Peter Wagner, 17. Mai 2010:
Sehr geehrter Erzabt P. Edmund Rudolf Wagenhofer,
ich danke für Ihren Brief. Diese Reaktion bedeutet mir viel,
auch Ihre Kritik den Schluss meines Stückes betreffend.
Für mich ist es zunächst einmal wichtig, zwei Dinge auseinanderzuhalten:
Die „Kardinälin“ ist eine fiktive Figur, mag sie
noch so sehr ein konkretes Vorbild gehabt haben. Wäre es mir
darum gegangen, die Person Kardinal Groers zu portraitieren, hätte
ich mich wohl eher der Möglichkeiten eines Dokumentarfilms
bedient. Dichtung aber ist Verdichtung und damit per se Behauptung
jenseits eindeutig fassbarer Botschaften – was ihr noch keinen
Freibrief ausstellt, mit Botschaften willkürlich zu verfahren.
Insofern hat mein Stück nicht nur eine konkrete Person im Auge
bzw. nur diese eine, sondern zielt auf ein Phänomen ab, das
im fiktiven Korpus einer Figur gebündelt ist, um sich aus diesem
heraus zu entfalten. Wenn ich schreibe, zeichne ich, und wenn ich
zeichne, projiziere ich mein Inneres auf das Papier. Und so begegnen
einander zwei Kräfte bis hin zur Verschmelzung: die fiktive
Wirklichkeit einer Figur und die innere Wahrheit ihres Schöpfers.
Die Figur wird Teil von mir, ich werde Teil der Figur. Das alleine
ist schmerzhaft genug, in dieser Empathie liegt aber auch die Kraft,
eine Figur durchzuhalten, mag sie in ihrem persönlichen, ideologischen
und moralischen Aspekten auch noch so weit von mir entfernt sein,
ja mich im Eigentlichen sogar abstoßen. Ich bin draufgekommen,
dass ich in vielen meiner Werken nach dieser Verschmelzung suche,
vielleicht bin ich in gewisser Weise sogar süchtig danach,
in die fiktive Haut der Täter zu schlüpfen, um mich der
Schuld zu stellen. Ja vielleicht bin ich sogar süchtig nach
Schuld, vielleicht auch nur nach dem Schrecken der Katharsis. Um
gereinigt zu sein? Gar gewappnet? Ich weiß es nicht. Instinktiv
aber meine ich in der Schuld jene Kraft zu erkennen, in der das
abgründige Wissen des Menschen verankert ist und die für
mich aus genau diesem Grund die Basis alles Erkennens darstellt.
Dabei fühle ich mich Shakespeare näher als der Erbsünde.
Bei der Recherche einer öffentlichen Person, die sich dem eigenen
schuldhaften Verhalten aus egal welchen Gründen nicht stellte
oder stellen konnte, hatte ich mich hauptsächlich dreier Quellen
bedient: der Tagespresse (die in der Folge immer weniger wichtig
wurde), des Buches von Hubertus Czernin „Das Buch Groer –
Eine Kirchenchronik“ und schließlich des Buches „Maria
im Geheimnis Jesu Christi“ von Hans Hermann Groer. Und sehen
Sie, es waren die authentischen Worte des Autors selbst, die die
entscheidende Wirkung auf mich hatten – durchaus im Negativen,
wie ich noch erklären werde. Darüber hinaus befasse ich
mich seit Jahrzehnten mit sog. feministischer Literatur, das heißt
ich widme mich Arbeiten aus der Matriarchatsforschung, interessiere
mich intensiv für die weibliche Sicht von Welt und Spiritualität
und die Auseinandersetzung mit der christlichen Religion im Allgemeinen
sowie dem patriarchalen Kirchenkonstrukt im Besonderen durch weibliche
und männliche Autoren. Die nachhaltigste Wirkung auf mich hatten
da gewiss die Bücher „Die Göttin und ihr Heros“
von Heide Göttner-Abendroth und „Das Schwarzmond-Tabu“
von Jutta Voss, ich möchte aber auch Friedrich Heer, Robert
Ranke-Graves, Georges Bataille und Georges Devereux unter vielen
anderen AutorInnen nennen.
Zuletzt muss ich auch noch mein Interesse für den Marienglauben,
wie er in Mexiko gelebt wird, erwähnen. Seit rund zwanzig Jahren
arbeite ich an einem Roman, in dem dieser Glaube eine entscheidende
Rolle in der persönlichen Entwicklung meines Helden spielt
(der, wie ich, den Glauben früh verloren hat; zwar möchte
er, wie Chateaubriand, zu ihm zurückfinden, noch aber ist sein
Zweifel stärker). Regelmäßig besuche ich den zentralmexikanischen
Marienwallfahrtsort Patzcuaro, um mich innerlich einem Glaubensphänomen
zu nähern, das in vielerlei Hinsicht archaisch, in christlicher
Diktion wahrscheinlich sogar heidnisch zu nennen wäre. Eben
hier komme ich auf das Buch von Groer über den Marienglauben
zurück.
Bei der Lektüre hatte sich mir der Eindruck zunehmend verstärkt,
dass es dem Autor nicht so sehr um die Verehrung der Mutter Gottes
gegangen ist, sondern um eine ideologische Eindämmung ihrer
Macht. Ich weiß, dass das folgende Zitat aus dem Zusammenhang
gerissen ist, aber ich will es dennoch als Beispiel anführen:
„Man könnte ein bisschen poetisch auch sagen: Gott hatte
Maria schon im Anfang ihres Daseins auf Sein Ufer geholt, als Sein
fehlerloses Geschöpf ´angenommen´. Allerdings:
Als solches ist Maria aus sich selbst noch mehr ein ´Nichts´;
weil Gott ihr mehr als sonst einem Menschen geschenkt hat, ist sie
mehr Geschöpf als die anderen Menschen. Und ist doch, mit würdevollster
Freiheit begabt, ganz ´groß´: ganz schön
und rein und voll Seiner uneingeschränkten Huld, Seiner Liebe
und Zuwendung.“ (Groer, Seite 30; teilweise auch zitiert in
meinem Stück.)
Für ihn ist Maria nichts anderes als das Gefäß,
der Uterus. Mit dem er sich schließlich auf eine Stufe stellt
in ihrer beider absoluten Dienerschaft: Denn auch er ist das Gefäß,
der patriarchale Uterus, die Kirche, aus dem er Hunderte von Kindern
und Erwachsenen zu Gott hin sozusagen: geboren hat. Die Entmachtung
Marias als reines Geschöpf Gottes gewährt die bedenkenlose
Selbsterhebung in ihren Rang, ja sogar darüber, denn sie ist
ja „mehr Geschöpf als die anderen Menschen“. Abgesehen
davon, dass es seltsam befremdend anmutet, dass ein selbstberufener
kirchlicher Marien-Ideologe Ende des zwanzigsten Jahrhunderts solche
verkorksten Zurechtrückungen und Hierarchiespielchen anstellt,
scheint mir darin auch eine besondere Hybris, ja ein christlich-mythologischer
Autismus zu stecken, der natürliche Grenzen nicht mehr zu akzeptieren
braucht (damit ist auch der sexuelle Übergriff gemeint), weil
er sich längst in anderen Sphären der Wahrheit, der hybriden
Selbsterhebung befindet. Dort aber ist er sehr wohl derjenige, der
sich zu seinem Werk, der Kirche, und zu sich selbst als der Mutter
Gottes gratulieren darf – nämlich durchaus im Konnex
mit seinem eigenen Drama, das in einem kapitalen Missverständnis
von Macht und göttlicher Legitimation besteht.
Ich will noch darauf hinweisen, dass ich das ursprünglich im
Text stehende Schlusswort „Wie ich bin, bin ich nur aus mir.
Ich danke mir. Der wahren Mutter Gottes“ in der Inszenierung
geändert habe auf: „Wie ich bin, bin ich aus mir. Ich
danke mir. Der Mutter Gottes.“ Das ändert die Grundbedeutung
zwar nicht, macht aber doch einen kleinen Unterschied aus, der mir
wichtig war.
Ihr Peter Wagner
Stücke Peter Wagner
|
 |
 |
 |
|
  |