Offener Brief an Vaclav Havel
Peter Wagner
7572 Deutsch Kaltenbrunn 131
Österreich
An Vaclav Havel
Präsident der CSFR
Prag
Tschechaslowakei
OFFENER BRIEF
Lieber Vaclav,
zunächst einmal, prost! Einen Schluck auf Dich. Und einen auf
mich – und meinen Mut, den großen, viel beschäftigten
Kollegen mit einem Brief zu belästigen.
Aber es gibt da etwas, und ich kann nicht umhin, es Dir zu sagen:
Du siehst nicht gut aus, Vaclav. Dein äußeres Erscheinungsbild
macht mir Sorgen. Ich habe das Gefühl, Du rauchst zu viel. Trinkst
Du auch? Nicht, dass ich Dir deshalb Vorwürfe mache! Und gewiss
handelt es sich nur um eine unsinnige Befürchtung, wobei ich
unerlaubterweise von mir auf Dich schließe: ich jedenfalls
würde ohne Nikotin – und ohne Alkohol sowieso – ein
Amt wie Deines nicht über die Runden bringen.
Dennoch – und wenn Du Dich in den Spiegel siehst, müsstest
Du es eigentlich selbst wissen:
Du hast als Dissident besser ausgesehen!
Damals hat man Dich – selten zwar, aber doch – in Beiträgen
des westlerischen Fernsehens beim Holzhacken, beim Eingesperrtsein,
beim Waten durch eine Schneelandschaft sehen können. Beobachtet
und verfolgt von jenen Bütteln der Staatsmacht, die Dir heute
unterstehen. Damals, als die Welt noch in Ordnung und Vaclav Havel
der Dissident war, dem unsere Hochachtung und unser Respekt gegolten
hat. Du warst –bei Gott! – nicht nur für die Menschen
Deines eigenen Landes der Ausdruck eines Gewissens, das man sich
auch bei uns im Westen (und gerade hier!) höchstens noch als
einen gewissen exotischen Luxus leistet. Man konnte einen stets unbeugsamen,
kämpferischen, liebenswerten Vaclav Havel unverzagt durch die
dicke Decke des Schnees der Widerwärtigkeiten stapfen sehen
und wieder an die Wirksamkeit und Wichtigkeit ethischer Grundsätze
glauben. Wie groß warst Du damals, Vaclav!
Heute, mein mittlerweile noch größer gewordener Kollege,
finden die Begegnungen mit Dir zwar häufiger als früher
statt, es vergeht kaum eine Nachrichtensendung im Fernsehen, ohne
dass ich Dir nicht begegne. Aber es ist nicht mehr so wie früher.
Nahezu täglich erscheinst Du bei mir im Wohnzimmer. Jeweils
jedoch nur für zehn, zwanzig Sekunden, wenn Du wieder einmal
das Dasein eines anderen Präsidenten mit Deiner Referenz zierst,
Hände schüttelst (man kann sich nicht immer aussuchen,
welche Hände man schüttelt, ich weiß schon!) oder
eine Rede hältst. Von der ich kaum etwas zu hören kriege,
weil Dich das Fernsehen so schrecklich zusammen schneidet. So bleibt
denn von unserer Beziehung zueinander nichts anderes übrig als
eine mich mehr und mehr frustrierende Oberflächlichkeit und
Flüchtigkeit. Du bist also tatsächlich noch flüchtig
geworden, Vaclav, und das auf Deine Alten Tage!
Mein lieber Vaclav! Ich bin nach wie vor ein Verehrer von Dir, ich
habe nicht einmal gegen die Tränen gekämpft, als Du das
Gelöbnis auf die Republik ablegtest. Du, der exemplarische Verlierer,
der Du Dich anschicktest, die Ehre aller wahrhaftigen Verlierer zu
retten. Nun wird, so fürchte ich mit keinem geringen Bedauern,
das Gegenteil passieren.
Einst warst Du Idol derjenigen, die wussten, dass es des Widerstandes
und der Utopien bedarf, um die Welt in Bewegung zu bringen, und Du
saßest ihretwegen sogar im Gefängnis. Nunmehr bist du
vom Idol zum Symbol avanciert (im quantitativen Sinne gewiss ein
Aufstieg!): zum Symbol der Postmoderne in der Politik. Die Utopien
stellen sich wieder dort an, wo sie der gegenwärtigen Meinung
nach – denn die Zeiten sind schwierig, aber wann waren sie
das nicht? – hingehören: ganz hinten hin, an das Ende
des ganzen Rattenschwanzes der Sachzwänge, die die Funktion
der traditionellen Politik übernommen haben – zumindest
in der Wirklichkeit der Reichen Welt, an die auch Dein Land nun den
wohlverdienten Anschluss vollzieht. Du bist in eine Welt eingetreten,
in der Du als Verlierer keine Chance mehr haben wirst. Dir bleibt
nur mehr die triste Aussicht auf Erfolg. Und das kann doch nicht
alles sein, was Du Dir vom Leben erträumt hast, Vaclav!
Ich kann mir nur Deine Bekümmernis darüber als Ursache
dafür erklären, dass Du augenblicklich so schlecht aussiehst.
Und Du solltest etwas dagegen unternehmen! Was hast Du schließlich
davon, wenn Du vor einem wenig zur Mystifizierung beitragenden Herzinfarkt
die Patschen ausstreckst?
Und dann ist das auch so eine Sache mit den Grenzen, die wir abschaffen,
und zurzeit leuchtet Dein Nimbus als oberster Grenzenabschaffer der
Welt ja noch immer einigermaßen hell. Vielleicht auch nur deshalb
noch, weil man intuitiv die eigentliche Wichtigkeit des Künstlers
ja doch erkennt: es ist seine Pflicht, an Grenzen zu gehen und sich
mitunter sogar über diese hinwegzusetzen, wofür er von
seinen Zeitgenossen meist mit Ablehnung geadelt, von seiner Nachwelt
eher mit Verehrung bestraft wird. Der Staatsmann hingegen hat die
Pflicht dafür zu sorgen, dass Grenzen gezogen und nicht überschritten
werden, es sei denn, er ist dem Größenwahn verfallen.
Gerne lässt er sich bei der Ausübung unterstützen
vom allmächtigen Argument des Sachzwanges, dessen Exekution
er zudem jederzeit mit staatsmännischer Verantwortung zu verwechseln
bereit ist – siehe u. a. die weiterhin uneingeschränkte
Nutzung der Atomkraft in Deinem Land! Der Staatsmann Havel schweigt,
wo der Künstler Havel sich geäußert hätte!
Kurz, lieber Vaclav: ich halte nichts von der Verbindung Staatsmann
und Künstler. Denn sie bildet nicht eine Synthese hin zu humanitären
Fortschritten, sondern eine Schizophrenie. Und ich halte schon gar
nichts von der Schizophrenie an der Spitze der Macht. Der Künstler
ist nicht nur Opposition aus Passion, er ist Opposition aus Prinzip.
Ohne dieses Prinzip gäbe es keine Kunst. Und ich kann mir einfach
nicht vorstellen, dass Du Dich gegen den Künstler zugunsten
des Staatsmannes entschieden hast! Oder doch? Dann allerdings verstünde
ich Deine Entscheidung, in Deiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber
der tschechaslowakischen Armee zweihundert Mann einer Spezialeinheit
ins Krisengebiet an den Golf zu entsenden. Meine Enttäuschung
wäre deshalb freilich um nichts geringer: soviel vorauseilenden
Gehorsam hätte ich nicht einmal dem zum Staatsmann mutierten
Vaclav Havel zugetraut!
Ich möchte Dir von einer Begebenheit erzählen:
Bei den Arbeiten zu einem Theaterstück („Grenzgänger“ nach
dem Hörspiel Deines schon früh aus der Tschechei emigrierten
Kollegen Jan Rys) haben zwei in Österreich lebende junge Tschechen,
die hier keine Arbeit fanden, mitgeholfen.
Danach gab es ein Fest, weil das Theater sowieso mehr Bauch ist
als Intellekt.
Deine beiden Landsleute übergaben mir bei der Gelegenheit ein
Präsent: eine Zündholzschachtel, in einem matten Grün
gehalten. Darauf Dein Konterfei. Darunter steht geschrieben: „Záruka
svobodnych voleb“.
Ich weiß bis heute nicht, was das heißt.
Ich dachte nur: ach, sie schenken mir eine Schachtel mit Zündhölzern
drin, darauf der Konterfei des Präsidenten Vaclav Havel! Als
hätte man Dich mit George Bush verwechselt und im amerikanischen
Wahlkampf verteilt! Das ist ja wohl die größte Frechheit,
dachte ich! Vaclav Havel mit Streichhölzern zu identifizieren,
die man anzündet, verbrennen lässt und dann ungeniert in
den Aschenbecher wirft: es ist der Gipfel der Infamie!
Ich hatte mich getäuscht:
Deine beiden Landsleute hatten die Streichhölzer aus der Schachtel
entfernt und ein kleines Stück Stacheldraht hineingelegt.
Ein rostiges Stück Stacheldraht, trotzig in der Streichholzschachtel
liegend wie ein Stück Kunst, ein Stück Ästhetik gewordenen
Grauens.
Ich wurde nachdenklich: auch wenn Dein Konterfei die Zündholzschachtel
ziert, wer weiß denn wirklich, was für eine Überraschung
man erlebt, wenn man sie erst einmal öffnet. Ich bin mir sicher,
Du wüsstest es selbst nicht!
Nicht, dass ich an Deiner Integrität als Mensch und als Humanist
zweifelte. Aber ich habe es sehr bedauert, dass Du die Macht nach
den Freien Wahlen in Deinem Land nicht aus der Hand gegeben hast,
wie Du es versprochen hattest. Und dorthin zurückgegangen bist,
wo Du hingehörst: zur wahrhaft Großer dieses Jahrhunderts
geblieben.
Und dennoch, Vaclav, es ist noch nicht zu spät!
Ich fordere Dich auf:
Hol’ Deine Spezialisten vom Golf heim und tritt dann zurück!
Tu’ es, bevor man anfangen muss, auch vor Dir Angst haben
zu müssen!
Mach den nächsten Schritt vorwärts und werde wieder das,
was Du vor dem Staatsmann warst: der Verlierer, der sich selbst und
so vielen anderen Rückgrat ist!
(Ich weiß zwar nicht, ob die Verlierer die Welt retten werden.
Ich weiß aber, dass die Sieger es ganz bestimmt nicht tun werden.)
Du bist zwar noch immer einer schöner Mensch, Vaclav, aber
ich habe doch gesehen, dass Du nicht mehr so gut aussiehst wie damals,
als du von der Burg zum Dom hinübergegangen bist.
Pass auf Dich auf. Und tritt zurück. Und grüß Olga,
wenn Du sie siehst. Dein
Peter Wagner
Deutsch Kaltenbrunn, am 1. Okt. 1990
Der Brief ist in mehreren österreichischen Zeitungen erschienen.
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