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Versuch über das Akribische
bei Franz Simon
Ich sehen ihn, den Zeichner, über sein Blatt gebeugt, den
Ellenbogen der Hand, die die Feder führt, von sich gespreizt,
den Rücken leicht gekrümmt, die Augen zusammen gekniffen.
Dabei sehe ich vielleicht gar nicht den realen Franz Simon, sondern
einen längst schon abstrahierten, einen idealisierten, der
uns, wie wir heute wissen und auch schon bald nach ihrem Erscheinen
wussten, zwei große, großartige Kunstbücher hinterlassen
hat, er, der Lehrer an südburgenländischen Volks- und
Hauptschulen, später der Herr Zeichenprofessor aus dem Gymnasium
Oberschützen. Aber aus diesem Bild des über das Zeichenblatt
Gebeugten spricht nicht nur der beinahe schon in die Metapher der
Hingabe entrückte Liebhaber seines Sujets, aus ihm spricht
auch eine gewisse Raubtierhaftigkeit, denn es kann nur einer, der
über den unumkehrbaren Willen verfügt, seine Beute zu
bezwingen und zu erlegen, zu solch einer zentrierten Zielstrebigkeit,
zu solch gestochener Schärfe im Federstrich, zu solch einem
Fanatismus in der Erzählung noch des kleinsten Details gelangen.
Die Beute des Franz Simon war freilich nicht das andere Tier, es
war das Haus, die Behausung mit all der kulturellen Indikation,
die ein schlüssiges, ja vielleicht das schlüssige
Selbstbildnis des Menschen liefert. Darauf war er zentriert, darauf
war sein ganzes Leben zentriert. Er hat das Haus auseinandergenommen,
ja er hat es, um den Vergleich mit dem Raubtier erneut zu bemühen,
er hat es regelrecht ausgeweidet, um es - und das ist seine künstlerische
Leistung, denn wir sollen das Künstlerische nie ganz trennen
von seinem infantilen Antrieb! - wieder zusammenzubauen und erneut
in die Welt zu setzen.
Als Franz Simon seine Häuser zeichnete, und ich sage nicht
ohne Absicht: seine Häuser, da er sie doch im künstlerischen
Akt zu seinen Häusern machte, als er also zeichnete,
gingen längst andere schon mit einem Fotoapparat durch die
Gegend und fotografierten und hielten fest, was bald danach dem
modernisierenden Krampen oder der Baggerschaufel zum Opfer fallen
sollte. Selbstverständlich ist auch die Fotografie eine Kunstform,
sofern sie mit Stimmung und Licht, mit der Akzentuierung der Form
zum Inhalt hin agiert. Doch seien wir ehrlich: um wie vieles anrührender
und plastischer kommen die Zeichnungen des Franz Simon daher als
jede Fotografie, die zwar ein scheinbar objektiveres Bildnis seines
Gegenstandes reproduziert, nicht aber den nachgestaltenden Geist
des sammelnden und so tief in das Verständnis der Lebensnotwendigkeiten
unserer Vorfahren eindringenden Forschers, der den Gegenständen
nicht nur die selektive Betrachtung, sondern auch seinen Röntgenblick
leiht. Denn tatsächlich geht Franz Simon mit seinen Vermessungen
immer auch in den Innenraum seines Satzgegenstandes: der Weinpresse
Franz Traupmanns in Heiligenbrunn Nr. 14 beispielsweise widmet er
in seinem Buch nicht weniger als drei Seiten mit sechs Zeichnungen.
Die Innenansicht des Presshauses zeigt uns, wie schief das alles
gebaut wurde, und man möchte sagen: wie wunderbar schief, da
das Schiefe noch immer mehr zur Lebendigkeit beiträgt als all
das Gerade, dem wir heute verhaftet sind. Der Aufriss auf der nächsten
Seite vermisst gnadenlos auf Zentimeter und Millimeter, wobei selbst
hier die leichte Schräglage der Presse gut zu erkennen ist.
Gleich zwei Zeichnungen widmet er dem Christusmonogramm auf dem
Pressbaum, wobei wir erfahren, dass der Zwischenraum zwischen den
Schriftzeichen des Monogramms drei Zentimenter beträgt, dass
die Buchstaben selbst fünf Zentimeter hoch sind, dass das Kreuz
über dem Eta fünfkommafünf Zentimeter hoch und drei
Zentimeter breit ist, und dass die Ausmaße des Herzchens unter
dem Eta zweikommafünf Zentimeter in der Höhe und zwei
Zentimeter in der Breite betragen. In den Zeichnungen fünf
und sechs kommt schließlich das Röntgenauge zum Tragen:
im Grund- und Seitenriss zeigt er uns anhand strichlierter Linien,
wie die Hölzer einander durchdringen, um sich ihre Stabilität
und Dichte zu erhalten.
Wir nennen solch eine methodische Vorgangsweise mit Vorliebe akribisch.
Wir sagen: er habe durch seine zeichnerische Akribie im
Ausloten der Details der untergegangen bäuerlichen Architektur
ein Denkmal gesetzt. Ich sage, er hat noch weit mehr als nur ein
Denkmal gesetzt: er hat im Vermessen des Details noch dem Unscheinbaren
seine stets auch tiefere Bedeutung, seine Sinn gebende Gestalt und
seine praktische wie ästhetische Wesenhaftigkeiten zurückzugeben
und es dadurch gerettet, ja, nicht weniger als das: er hat das Unscheinbare
für uns gerettet, damit wir nicht aufhören, uns in Demut
vor der kreatürlichen Intelligenz unserer bäuerlichen
Vorfahren zu verbeugen und in unseren Urteilen und Vorurteilen zu
bescheiden. Wer diesen pädagogischen, ja moralischen Duktus
des Franz Simon nicht sieht, der verkennt das Wesen seiner Hingabe
und letztlich auch das Wesen und die Wertbeständigkeit seines
Werks.
Er selbst hat im Vorwort seinen Antrieb zu dieser akribischen Durchleuchtung
einer kreatürlichen Intelligenz als Vermächtnis seiner
Mutter, einer Bauerntochter, bezeichnet. Von ihr, schreibt er, habe
er die tiefe Sympathie zur bäuerlichen Welt geerbt. Was kann
das für uns, für die diese bäuerliche Welt, von der
Franz Simon spricht, ein für allemal verloren ist, heute noch
bedeuten? Ich habe schon von der Demut gesprochen, die uns befallen
muss, wenn wir uns in Erinnerung rufen, mit welch immer wieder neuer
Energie Menschen einen so oder so harten Alltag zu bewältigen
versuchten. Ich möchte aber auch von einem Appell sprechen,
den diese tiefe Sympathie, die tatsächlich ja aus jedem einzelnen
Blatt dieses Buches spricht, an uns richtet, und er ist vielleicht
mehr noch ein Auftrag als nur ein Appell: lassen wir uns nicht müde
machen in unserem gestalterischen Bemühen, so lautet der Auftrag,
egal ob es dabei um die Gestaltung unseres Hauses, unseres Alltags,
unseres Bewusstseins oder unserer Politik geht! Lassen wir es nicht
zu, uns durch den Rückzug in das rein Private der Resignation
vor den großen Problemen unserer Gegenwart zu ergeben, mag
es sich dabei um Euro- und Wirtschaftskrise, mag es sich um den
Skandal eines von uns selbst verursachten Klimawandels oder um die
schlichte Überfressenheit der Köpfe und Leiber am Überangebot
des Unverdaubaren handeln. Ich persönlich empfinde jedenfalls
Trost und Auftrag zugleich beim Durchblättern dieses Werkes.
Und damit kann dieses Buch mehr als viele andere Bücher, durch
die ich mich in meinem Leben schon bewegte. Franz Simon hat damit,
ohne es je intendiert zu haben, einen Klassiker geschaffen - und
das heißt: etwas Bleibendes!
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf einen weiteren, begnadeten
Naiven unseres Landes verweisen, der zehn Jahre älter war als
Franz Simon, für mich aber wie ein Zwillingsbruder neben ihm
steht: es ist der Schneider, Bauer, Kapellmeister und Komponist
Karl Schönfeldinger, der sein Lebenszentrum nur wenige Kilometer
von Oberschützen entfernt in Bernstein hatte. Er hat nicht
nur über hundert Märsche, Walzer, Polkas, Landler und
damit die feinsten Zeugnisse der musikalischen Volkskultur gesammelt
und der Nachwelt überliefert, sondern selbst auch ein reiches
kompositorisches Werk hinterlassen. Angeblich komponierte er sogar
beim Mistausführen, komponierte es in ihm. So wie es ganz gewiss
in Franz Simon unablässig zeichnete, selbst wenn er zu Fuß
oder mit dem Rad unterwegs war. Ich habe Karl Schönfeldinger
einmal als ewig Verliebten der Musik bezeichnet, und diese Verliebtheit
möchte ich auch Franz Simon attestieren, die ewige Verliebtheit
in das freundliche strohgedeckte Bauernhaus, das ihn, seinen
eigenen Worten nach, schon in der frühen Kindheit entzückt
habe.
Mein Schulkollege aus dem Gymnasium und heutiger österreichischer
Botschafter in der Türkei, Dr. Klaus Wölfer, hat mir vor
wenigen Tagen erzählt, er habe Anfang der Siebzigerjahre ein
Foto geschossen, und zwar in einer Wiener Straßenbahn: da
doziere der Herr Zeichenprofessor mit hoch erhobenem Zeigefinger.
Hinter ihm in der Reihe sitze ein Schüler mit einem Wuschelkopf,
der verdrehe die Augen angesichts des dozierenden Lehrers in der
Vorderreihe. Man stelle sich vor, dieser in seine freundlichen
strohgedeckten Bauernhäuser verliebte Zeichenlehrer aus
Oberschützen, den seine Schüler einigermaßen respektlos
„Euler“ nannten, was ich heute als gar nicht so respektlos
empfinde, eher als poetische Replik mit mythischem Einschlag auf
einen, der nun mal eine große Brille trug, man stelle sich
also vor, dieser strohhausverliebte Zeichenlehrer war dazu verdonnert,
eine Horde pubertierender Gymnasiasten auf die damals so genannte
„Wien-Woche“ zu begleiten und zu beaufsichtigen! Das
war vor mehr als vierzig Jahren, also rund um den Zeitpunkt, als
das Buch „Bäuerliche Bauten im Südburgenland“
das Licht der Öffentlichkeit erblickte. Der da so respektlos
die Augen verdrehende Wuschelkopf soll ein gewisser Peter Wagner
gewesen sein. Für diesen frechen Kerl, lieber Franz Simon,
sei dir posthum eine Entschuldigung nachgereicht!
Abschließend möchte ich noch einem Bedürfnis nachgehen,
das nach der Erstpräsentation dieses Werkes in mir entstanden
ist. Da war von anderen Rednern und auch von der Tochter des Autors
die Einschätzung vermittelt worden, Franz Simon sei ein bescheidener
Mensch gewesen. Ich denke, das wird er in seinem direkten Auftreten
und Herantreten an die Menschen, mit denen er zu tun hatte, wohl
auch gewesen sein. Und doch vermag ich in seinem Lebenswerk selbst,
das uns in zwei Büchern und jetzt auch einer Neuauflage vorliegt,
wenig Bescheidenheit zu erkennen, und ich sage: Gott sei Dank! Wie
soll einer bescheiden genannt werden, der so sehr der fixen Idee
verhaftet ist, solche gewaltigen Bücher in die Welt zu setzen,
ja eine untergehende Welt darin nach Millimeter zu vermessen und
dabei nicht zuletzt auch ein beträchtliches finanzielles Risiko
zu tragen. Ich würde sagen, solch ein Mann ist im Grunde ganz
und gar unbescheiden in seinem Anspruch der Weltvermessung, und
ich sage noch einmal: er ist es zu unser aller Glück. Man erinnere
sich an den Scherenschnitt, der uns Anton Bruckner zeigt, wie er
seinem Meister Richard Wagner die Hand küsst. Im Grunde hätte
es auch umgekehrt sein können, aber Richard Wagner war eben
ein ausgewiesener Unbescheidener, der nie einem anderen die Hand
geküsst hätte. Bruckner hingegen konnte gar nicht anders,
als sich nach außen zu bescheiden – und doch im Inneren,
im Innersten seiner gewaltigen, gewaltig sich auftürmenden
Symphonien die ganz und gar unbescheidene Vorstellung zu kultivieren,
der Musikant Gottes zu sein, nicht weniger als das. Allein
die Vorstellung, schon als Lebender vor Gott zu stehen und für
ihn zu musizieren, müsste allen psychologischen Mustern zufolge
als reiner Größenwahn dechiffriert werden, was er freilich
nicht ist. Bescheiden ist er allerdings auch nicht. Ich wage zu
behaupten, die Antriebe der großen wie auch der nicht ganz
so großen Schöpfer, der männlichen und weiblichen
Schöpfer, waren, sind und werden nie die bescheidenen gewesen,
sonst hätten sie am Ende entweder nichts oder doch nur das
Mediokre zustande gebracht.
Und zuletzt: Gratulation euch allen, die ihr die Neuauflage eines
originär burgenländischen Klassikers möglich gemacht
habt!
© Peter Wagner, 8. September 2012, Kulturzentrum Oberschützen
Rede anlässlich der Neuauflage des Buches "Bäuerliche Bauten im Südburgenland" von Franz Simon. 2. Auflage 2012 / edition europrint, Oberwart, ISBN: 978-3-200-02658-2
Kommentare, Reden, Offene Briefe (Auswahl)
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