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Es ist eine Not mit uns
Bei einer Veranstaltung im Kulturzentrum „Offenes Haus Oberwart“ hielt
der Schriftsteller Peter Wagner eine „Rede zur Lage der Kulturnation“,
in der er sich mit der Ausländerpolitik beschäftigte. Zum
Zeitpunkt der Rede waren an der Grenze die Bundesheersoldaten noch
nicht aufmarschiert.
Peter Handke in einem Interview mit einer österreichischen
Tageszeitung: „Ich sage Ihnen: Bei Gott habe ich immer Sehnsucht
gehabt, Widerstand zu leisten. Aber kein Land der Welt macht es so
schwierig oder unmöglich, dass man Widerstand leistet, wie Österreich.
Gegen das, was Widerwillen, Hass, Unmut, auch Verzweiflung auslöst
hier. Die tief innere, man muss schon sagen, Massenseele hier. Ich
weiß nicht, was dagegen tun. Sicher sage ich mir immer wieder:
Du musst das aushalten, und du gehörst auch selbst dazu auf
eine Weise.“
Ich bin also Österreicher. Ich bin ein Österreicher. Lapidar
die Feststellung zwar, aber umso heftiger die assoziativen Reaktionen
in mir. Was bedeutet es, ein Österreicher zu sein? In welches
Selbstverständnis hüllt man sich ein in dem Augenblick,
da man das furchtbare Bekenntnis ausspricht: Ich bin Österreicher.
Furchtbar deshalb, weil man sich als denkender Österreicher
damit in einen schizoiden Zwischenraum begibt: Einerseits die Hoffnung
auf das, was man Heimat nennt, und Heimat ist jener Ort, von dem
du möchtest, dass dein Tisch und dein Bett dort stehen; anderseits
die unabdingbare Notwendigkeit, sich als Österreicher, der denkt,
sofort wieder distanzieren zu müssen von dem, was Österreich
als die vermeintliche Identität des Österreichers ist.
Zwischen der Hoffnung auf Heimat und der Notwendigkeit der Distanz
zu ihr liegt der quälend lange Weg durch die Wüste der österreichischen
Realität, in der dem Suchenden das Laufen im Kreise bleibt,
später das Kriechen im Staub einer zu Tourismuskitsch verkommenen
Vergangenheit, in der dem Phantasievollen nur das Dahindämmern
im Koma der geistigen Unterernährung bleibt, während eine
Armlänge neben ihm das Rülpsen und Furzen, das Intrigieren
und Huren an einem bis zur Entartung überfüllten Tisch
sich zu Jedermanns Adabei-Festspielkultur zusammenorchestriert.
Wie ein zweites Herz
Das erste Mal musste ich die Krankheit, Österreicher zu sein,
in einem Lebensabschnitt erfahren, da das Geheimnis zu leben noch
irgendwo in einem unbekannten Inneren verborgen war und gerade aufbrechen
wollte: in meiner Pubertät. Mein Denken hatte noch mehr mit
meiner Sinnlichkeit zu tun als mit meinem Verstand, und vielleicht
trug gerade dieser Umstand Schuld an der Verwüstung, die der
Blick ins Geschichtsbuch, in die Geschichte meiner direkten Vorfahren,
anrichtete: Nicht nur die Invasion deutscher Truppen, der militärische
Einmarsch Hitlers (eines Österreichers also), der politische
Anschluss Österreichs an die Sprache der Gewalt, sondern vielmehr
der Verrat der Österreicher, der Verrat des Volkes Österreich
am Volk Österreich, der folgerichtig am Ende der Rechnung von
den professionellen österreichischen Geschichtsfälschern
wegretuschiert wurde, indem man Österreich als erstes Opfer
des Hitlerfaschismus in die Geschichte hinein zu lügen versuchte.
Ich kann dem Österreich diesen Verrat nicht verzeihen, bis heute
nicht. Ich höre ihn pochen, den Verrat, wie ein zweites Herz,
das dem Körper dieses Landes einverbleibt ist, ein falscher,
hinterhältiger, dumpfer, gewalttätiger zweiter Rhythmusmacher,
der uns nicht frei werden lässt von einer doppelbödigen
Moral; ein böses zweites Herz, das auf das Antlitz des angeblich
gutmütigen, leutseligen, im sympathischen Sinne fatalistischen
und zurückgebliebenen, im Lebensstil gemütlichen und im
Künstlerischen genialischen Österreichers den Schatten
aggressiver Ignoranz, süffisanten Vernichtungswillens, progressiver
Unterordnung und autoritäre Macht- und Gläubigkeitsstrukturen
wirft.
Nichts kennzeichnet die Doppelbödigkeit österreichischer
Moral besser als die laufende Diskussion um Flüchtlings-, Asyl-
und Ausländerpolitik. Politiker und Medien hierzulande schmücken Österreich
gerne mit dem Prädikat eines „klassischen Asyllandes“.
Sollte Österreich wirklich jemals ein „klassisches Asylland“ gewesen
sein, dann hat man es spätestens jetzt als solches verraten.
Und mit ihm die Haltung – die ja offenbar einstmals existiert
haben muss –, den Fremden, den Ausländer, den, egal aus
welchen Gründen, Vertriebenen und Emigrierten als etwas anderes
zu sehen als den Juden von heute, den menschlichen Giftmüll,
der uns eventuell sogar das Schwarze unter den Fingernägeln
herausätzen könnte.
Initialzündung
Wir Burgenländer dürfen uns zumindest rühren, im
Bemühen um die neue Ausländerfeindlichkeit an vorderster
Front mitgeritten zu sein: Ein Landtagsabgeordneter der blauen Fraktion
bemüht vor laufender Kamera seine überragenden Geschichtskenntnisse
bezüglich Völkervermischungen, betreibt Stimmungsmache
gegen Ausländer unter dem durchsichtigen Mäntelchen des
Schutzes der eigenen Volkskultur, die selbstverständlich eine
deutsche ist, da ja auch unsere Sprache eine deutsche sei. – Man
sollte einmal die Amerikaner fragen, ob ihre Kultur eine englische
sei, nur weil ihre Sprache eine englische ist. Die Briten würden
den Amis als erste an die Gurgel springen, wollten diese die Frage
bejahen. – Und unsere Landesregierung hat zielsicher die Chance
verpasst, die neue Herausforderung auf die Ebene einer effektiven
Auseinandersetzung zu stellen, indem sie diese überhaupt gleich
vermieden hat: Statt ein mutiges, offenes, unbequemes, vielleicht
sogar eingestanden ratloses Wort zu riskieren, treten am 6. März
die beiden Landesräte Stix und Ehrenhöfler – laut
einer Agenturmeldung – vor die Bevölkerung von Kaisersteinbruch,
in dessen Kasernen 800 Flüchtlinge vorübergehend einquartiert
werden sollen, und verkünden mit dem Gestus des Triumphes, die
Kasernen würden für die Unterbringung der Fremden nicht
geöffnet, da die Landesregierung nach einhelligem Beschluss
ein neues Baurechtsverfahren negativ bescheiden würde. Die mediale
Optik wirkte verheerend: Das Wort der obersten Autoritäten des
Landes heischte mit einem in der Not des Zugzwangs austaktierten
Ausweichmanöver nicht nur nach der Befriedigung einer an Irrationalismus
grenzenden Panik unter der Bevölkerung, sondern nützte
die Stimmung geschickt für sich, ohne dabei auf das gesellschaftliche
Problem selbst eingehen zu müssen. Es suggerierte nicht weniger
als: Wir, eure Landeshäuptlinge, wir haben es in der Hand, euch
die Ausländer vom Hals zu halten. Mit Applaus konnte gerechnet
werden. Ein trauriger Applaus für die traurige Darbietung einer
Landesregierung, die dem Dialog von vornherein ausgewichen war, da
sie mit Recht erkannt hat, wie viel Sprengstoff er enthält.
Das baugesetzliche Argument musste als Befriedigung reichen, somit
brauchte ein inhaltliches erst gar nicht gesucht zu werden.
Für den Österreicher vor dem Fernsehschirm wurde die Ablehnung
der Ausländer dadurch erstmals offiziös mitgetragen, also
auch als politisches Faktum salonfähig. Ein Dorf hatte sich
mit billiger Unterstützung der Landesregierung durchgesetzt.
Es sollten viele Dörfer diesem Beispiel folgen, es sollte bald
ganz Österreich mitsamt seinen Repräsentanten die Tür
am liebsten ganz zumachen wollen. Ich will niemanden persönlich
Ausländerfeindlichkeit unterstellen. Ich will die Menschen in
Kaisersteinbruch nicht verurteilen, denn Angst ist – egal,
in welcher Form – immer ernst zu nehmen. Ich will aber sagen:
Was uns die burgenländische Landesregierung vorexerziert hat,
war nicht so sehr die subversive Ausnutzung des Gesetzes zugunsten
der Bevölkerung, als vielmehr der Sieg des Populismus über
das Argument – mit für mich tragischer Initialzündung
auf ganz Österreich.
Was seitdem an entwürdigender Diskussion rund um unsere emigrierten,
so oder so vertriebenen Mitmenschen aus dem Osten passiert ist, wissen
wir. Der rote Innenminister lässt mit brüderlicher Unterstützung
seiner schwarzen Gesinnungsgenossen des Eisernen Vorhang durch eine
5000-Schilling-Barriere wiedererrichten. Es ist eine Not mit uns,
und die Not ist in unseren Köpfen. Kann es sein, dass Reichtum
Not macht? Soviel geistige, ethische Not? Dass sich die geistige
Not des materiellen Reichtums – und wir können uns in
Anbetracht der materiellen Not im überwiegenden Teil der Welt
nur als reich, als ungeheuerlich und unziemlich reich, bezeichnen –,
kann es also sein, dass sich die geistige Not des materiellen Reichtums
in Zynismus äußert? Oder ist es etwas anderes als zynisch,
wenn man von jenen, die nichts haben, als Eintrittskarte ins Reich
des Habens das verlangt, was sie gar nicht haben können? Ein
Minister, Mitglied einer angeblich sozialdemokratischen Partei, schafft
es tatsächlich, einen Trennungsstrich zu ziehen, und das effektiv:
Es gibt die einen, die haben. Und es gibt die anderen, die haben
nichts. Und mit denen wollen wir nichts zu tun haben. Basta! Ein
Glanzstück an Armut fürwahr, die einen erschaudern macht.
Schwindsucht der Ethik, Ausverkauf des Gewissens. Erbärmliche
und erbarmungswürdige Not des Gefühls und des Denkens.
Ein Mann der Regierung, ein Repräsentant des Konsenses der an
der Spitze des Staates epidemisch wütenden Erbärmlichkeit. Über
einen anderen Verräter mal zwei, beide Parteisekretäre
der gleichen verkommenen Partei, sollte hier eigentlich kein Wort
mehr verloren werden, würde an ihm nicht evident, dass das Gesetz
der Rhetorik und vielleicht demnächst auch das Gesetz des Handelns
den ideologischen Köpfen, den eigentlichen Sittenwächtern
ihrer Parteien entglitten ist. Österreich, so könnte man
sagen, ist reif für die Parole von rechts, bisweilen von ultrarechts.
Und je linker die Genossen sich einst gegeben haben, um einen damaligen
Linksdrall für sich zu nutzen, umso rechter, glauben sie, müssten
sie heute ihre Positionen servieren, damit man sie in der Öffentlichkeit
nur ja als die Männer der rechten Politik enttarnen kann.
Wie jüngste Meinungsumfragen, die behechelten Fetische der
oberen Politik, kundtun, gibt ihnen der Verrat recht: Josef Cap konnte
fünf Prozent in der Akzeptanz des kleinen Mannes und seiner
kleinen Frau zulegen, Peter Marizzi sogar acht, während das
Ansehen der meisten anderen Spitzenpolitiker ungefähr gleich
blieb. Nur Jörg Haider und Heide Schmidt konnten ebenfalls fünf
beziehungsweise sechs Prozentpunkte zulegen. Eine feine Gesellschaft.
Dem Trend folgend, werden sich in absehbarer Weise bald auch die
anderen Spitzenpolitiker zu tendenziös ausländerfeindlichen
Stellungnahmen hinreißen lassen, es gibt Wahlen, und nichts
heiligt so sehr den Zweck als die Angst vor dem Verlust der Macht.
Sollte jetzt etwa gar noch die Ruine an der Spitze unseres Staates
Kurti persönlich, die Ausländerfrage zum Philosophieren über
volle Boote benützen, dann stünde seiner Wiederwahl schon
deshalb nichts im Wege, weil dann die ÖVP selbst an einen neuerlichen
Erfolg ihres Herzipinkies glauben könnte. Und Österreich
hätte wieder einmal wenigstens in einer Sparte Konsequenz gezeigt:
in der Disziplin des Sichblamierens.
Gegenteil von Verantwortung
Freilich, mir sind die Argumente bekannt: Man dürfe Haider
nicht die alleinige Ausnützung der ausländerfeindlichen
Stimmung in Österreich überlassen. Aber trägt dieses
Argument? Kann es sich Österreich leisten, drei tendenziell
rechtslastige Parteien zu haben, die ihre taktisch zurecht gelegten
Programmatiken wie Hausierer auf jeweilige Stimmungslagen im Wählervolk
auslegen? Mich schaudert vor dem Gedanken, dass die Parteien aus
Angst vor einem blauen Kärntner Buntspecht die Verantwortung
für ein gedeihliches Zusammenleben aller Mensche in Österreich,
der hier geborenen wie der hier ansässig gewordenen, aus der
Hand geben. Für mich besteht das größte Experiment
des Menschen darin, dass er sich beigebracht hat, Verantwortung zu übernehmen,
der einzelne für den einzelnen, alle für alle, formuliert
im biblischen Grundsatz: Du sollst deinen Nächsten lieben wie
dich selbst. Die derzeit praktizierte Form des politischen Populismus
ist das Gegenteil von Verantwortung. Er sucht nach Wirkung, ohne
eine Ursache dafür zu liefern, indem er bloß Mechanismen
benutzt. Indem sie der Verantwortung ausweicht, begeht die Politik
Verrat an ihr. Einen neuerlichen Verrat an Österreich, dessen
Repräsentanten auch dereinst zu schwach, zu feige oder nicht
willens waren, den Verrat abzuwenden. Heute überlassen wir uns
abermals dem Lauf der Dinge, so fatal die Einbahnentwicklung in die
totale Verwirtschaftung unseres Planeten auch sein mag, wir leisten
keinen Widerstand, weil wir die Notwendigkeit von Widerstand nicht
erkennen – noch nicht erkennen. Wir rennen wie Kälber
den Entwicklungen nach, mit oder ohne Anschluss an die EG, aber ganz
bestimmt ohne die neuerdings strapazierte „Qualität des
Denkens“, womit hierzulande schon eine einigermaßen eloquente
Rhetorik bezeichnet wird.
Visum auf Elend einführen
Dort, wo der Mensch sein selbst gewähltes Experiment der Verantwortung
verlässt und verrät, mündet seine Existenz in Krieg,
jedenfalls aber in geistiges und mentales Elend, das den Krieg wie
eine Todessehnsucht nach sich zieht.
Und ich prophezeie es: Wir werden eines Tages diejenigen beneiden,
die „nur“ materielles Elend leiden. Wenn wir so weit
sind, dass wir uns materielles Elend schon so wenig vorstellen können,
dass wir das der anderen nicht mehr verstehen, dass wir ein Visum
auf Elend einführen, weil wir glauben, uns nur so vor ihm schützen
zu können – wenn wir tatsächlich so weit sind, dann
sind wir längst von einer wesentlich fataleren Seuche befallen,
dem Elend und der Armut in unseren Herzen und Köpfen. Unser
Neid auf die Armen der Welt wird so groß sein, dass wir mit
Knüppeln auf sie einschlagen werden, wo wir das nicht ohnehin
schon tun.
Wir sollten begreifen, dass wir die Basis für das Schicksal
der zukünftigen weltweiten Konflikte jetzt legen. Erstmals in
der Geschichte geht es nicht mehr nur um Gedeih und Verderb einzelner
Völker, sonder um das Weiterexistieren der gesamten Menschheit.
Und die Katastrophe muss nicht nur eine ökologische sein: Keiner
kann sich ausmalen, was geschieht, wenn die Wallungen des Ungleichgewichtes
zwischen schreiend armer Welt und unmäßig reicher Welt
zum Überkochen kommen. Wenn sowohl Natur als auch Menschen von
uns zurückfordern, worum wir sie jahrhundertelang betrogen haben.
Wie werden wir dann dastehen und antworten? Ich denke, wir werden
uns entscheiden müssen: Entweder wir gehen auf diejenigen, die
durch unsere Schuld hungern zu und wagen den Sprung in die Utopie,
die uns alle leben lässt – das hieße allerdings,
unendlich viele Berührungsängste zu überwinden, was
nur dann möglich ist, wenn wir einen großen qualitativen
Entwicklungssprung in unseren Köpfen vollziehen – oder
wir halten der geschändeten, aufbegehrenden Welt unsere Gewehr-
und Kanonenläufe vor die Nase und leiten damit eine Entwicklung
ein, neben der Auschwitz wie die Experimentierstube pubertierender
Dummköpfe dastehen wird.
Sollte jedoch noch jemand an erstere Möglichkeit glauben, dann
frage ich: Wann wollen wir denn damit beginnen, uns auf das Neue,
Gewaltige, noch nie Dagewesene einzustellen? Wie und wo wollen wir
zur Schule gehen, denn es wird Zeit sein, dass wir Dinge lernen,
die wir entweder schon wieder vergessen haben oder noch nicht wissen.
Wieso, frage ich weiter, verweigert aber die derzeitige Politik die
Verantwortung für das geistige Mithalten in einer sich fundamental
verändernden Welt?
Dabei böten uns gerade jene, die aus dem oder einem anderen
Grund in unser Land wollen, die Chance, etwas mehr von uns und der
Welt zu kapieren. Auch ich hege oft genug Abneigung gegen jene, für
die die Insignien unserer Wohlstandsgesellschaft zum Goldenen Kalb
ihres Denkens uns Strebens geworden sind. Abneigung, ja sogar Hass.
Wieso? Weil sie mir den Spiegel der eigenen Leere inmitten der vollen
Regale vor Augen halten.
Wir müssen viel Angst überwinden. Ich finde, wir sollten
die Menschen hereinlassen. Alle. Wir sollten uns selbst eine Chance
geben. Und uns nicht verraten lassen.
Peter Wagner
Die Rede ist in der „Volksstimme“-Beilage.“Panorama“ im
Frühjahr 1990 erschienen.
Kommentare, Reden, Offene Briefe (Auswahl)
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