Wuchernde Nichterinnerung
Ich hatte meine Mutter eingeladen, am kommenden Sonntag die sogenannte
Wehrmachtsausstellung in Graz mit mir und den Leuten vom Offenen
Haus Oberwart zu besuchen. Mein Sohn wäre ebenfalls dabei, er
würde sich freuen, mit Oma durch die Ausstellung zu gehen.
Meine Mutter ist solchen Gemeinschaftsfahrten selten abgeneigt.
Stimmungskanone, die sie ist, kann sie schon mal einen ganzen Reisebus
im Alleingang unterhalten.
Diesmal zögerte sie mit der Zusage. Sie rümpfte die Nase:
die lange Anreise - man braucht von Oberwart bis Graz eine knappe
Stunde -, die möglicherweise großen Wegstrecken zu Fuß,
das alles sei ihr zu beschwerlich. Außerdem könne sie
meinen Vater nicht den ganzen Tag alleine lassen. Meinen Vater, den
ehemaligen Wehrmachtssoldaten. 1948 heimgekehrt aus der russischen
Kriegsgefangenschaft.
Einige Tage später brach es dann mit ungezügelter Wucht
aus ihr heraus.
„Jetzt zieht ihr uns also auch vor unseren Enkelkindern in
den Schmutz. Das waren doch unsere Leute, und die sollen Verbrecher
gewesen sein?“
Unsere Leute. Und also auch mein Vater? Und also womöglich
auch sie selbst, wenn schon nicht als ausführendes Organ, so
doch als Komplizin an der Heimatfront, als hinterländische Göttin
des Verderbens?
Das Codewort für ihre Betroffenheit heißt „Verbrechen“.
Plötzlich taucht da ein monströser Begriff in den viskösen
Fluss der Erinnerung: ein verbotener Umarmungsakt, der im leidenschaftlichen
Kuss mitten auf den feuchten Mund des Bösen gipfelt.
„Wer von uns hätte denn etwas wissen können von
dem, was mit den Juden wirklich passiert? Wir haben das alles nachher
erst erfahren, weil die ja auch alle nicht heimgekommen sind. Wo
sollen die schließlich auch geblieben sein? Aber viele glauben
es heute noch nicht.“
Das hatte schon einmal anders geklungen.
Im Herbst 1981 waren zwei Neonazis in das Haus im Südburgenland
eingedrungen, in dem meine Lebensgefährtin und ich damals wohnten.
Es war zwei Uhr morgens, sie standen plötzlich im Zimmer, in
dem unser wenige Monate alter Sohn an der Brust seiner Mutter lag.
Sie drehten um, offenbar überrascht von diesem Anblick, und
ließen im Vorraum und im Hof zwei Kanonenschläge, das
sind etwa zehn Zentimeter lange, rollenförmige Knallkörper
mit einer Lunte, detonieren. Auch in ein anderes Zimmer, in dem sie
offenbar meine Person vermuteten, warfen sie einen Kanonenschlag,
der aber nicht sorgfältig genug gezündet wurde. Ich fand
ihn anderntags mit angesengter Lunte unter meinem Bett. Sie sprangen
wieder in das Auto, das mit laufendem Motor vor dem Haus stand. In
ihm befanden sich noch andere Personen.
Eine Nachbarin, die kurz zuvor von der Diskotheke nach Hause gekommen
war, hatte den Vorfall durch die Roulleaus beobachtet (am Land beobachtet
man prinzipiell das meiste durch die heruntergelassenen Roulleaus)
und das Auto als einen hellblauen VW-Käfer identifiziert. Ich
selbst kam etwa eine Viertelstunde nach dem Vorfall von einer Veranstaltung
in Großpetersdorf nach Hause.
Der hellblaue VW war weder meiner Lebensgefährtin noch mir
fremd. Wir kannten seinen Besitzer als einen einigermaßen aggressiven
Mann mit ausgeprägtem neonazistischen Gedankengut. Noch bevor
ich die Anzeige bei der Gendarmerie Großpetersdorf erstattete,
wollte ich mit dem Mann persönlich reden. In seiner Wohnung
in Stegersbach, deren Wände Poster von ausgebrannten Tanks zierten,
wurde ich, meinen Sohn auf dem Arm, von seiner Schwester empfangen.
Der Herr selbst ließ sich verleugnen.
„Spiele dich nicht mit den Nazis!“
Das war die erste Reaktion meiner Mutter auf den Vorfall. Der Schrecken
kauerte wie ein Affe in ihrem Gesicht. Es war kein Augenblick, in
dem sie um die Worte rang, sie quollen völlig unzensiert aus
ihr heraus. „Wir alle haben gewusst, was mit denen passiert,
die abtransportiert wurden. Gleich am Tag nach dem Anschluss kamen
die ersten fort. Die Nazis kennen keinen Pardon.“ (Bei den
ersten Abtransportierten handelte es sich um burgenländische
Roma.)
Ich gehöre zu jenen hunderttausenden Töchtern und Söhnen
in Österreich, die auf ihre Fragen nach der Hitlerzeit kaum,
jedenfalls ungenügende Antwort von ihren Eltern erhalten hatten.
Plötzlich hatte ich eine Antwort! Noch dazu von jener Person,
von der ich sie seit Jahrzehnten am nachdrücklichsten, weil
vergeblichsten eingefordert hatte: erst die konkrete Bedrohung ihres
Sohnes durch einige wahrscheinlich besoffene Neonazis hatte sie möglich
gemacht. Selten war meine Bestürzung über die Konsistenz
des Verdrängten größer: wie vehement wucherte doch
die Nichterinnerung, wie genau wusste sie im Grunde über das
Verbrechen Bescheid!
Ein Prozess wegen Hausfriedensbruches fand übrigens nie
statt, obwohl die Täter ermittelt waren und einer von ihnen über
ein Jahr von der Stapo observiert wurde. Ein Bekannter, der der Sache
nachgegangen war, teilte mir mit, dass das Innenministerium einen
Prozess gegen Neonazis nicht für opportun hielte, da es in Österreich
kein Neonaziproblem gäbe. Das war 1982.
Seit dem Vorfall sind sechzehn Jahre vergangen. Ich habe meine Mutter
nie wieder nach der Hitlerzeit gefragt. Mein Hass auf das ursprünglich
gereizte Beschweigen der Vergangenheit hatte sich nach ihrem überraschenden
Geständnis in ein mitleidiges Verstehenwollen verkehrt. Ich
ging davon aus, dass ich das Wesentliche wusste. Makabererweise hatten
mir zwei Neonazis dabei geholfen. Und auch meiner Mutter - wie ich
meinte.
Diese Einschätzung war ein Fehler. Ich hatte viele Bücher über
diesen Krieg gelesen, ich wusste tatsächlich einiges. Aber ich
ahnte das wenigste. Ich bin noch immer der Meinung, dass die Ahnung
das stärkere Wissen ist. Heute bedauere ich es, dass ich nach
der Warnung meiner Mutter nicht erst recht auf alle meine persönlichen
Fragen an sie als Mitglied der Hitlerfamilie beharrt hatte. Wir hätten
noch sehr viel mehr voneinander erahnen können, hätten
wir uns den wesentlichen Blick in unsere Abgründe zuletzt nicht
doch wieder erspart - wofür leider ich selbst die Hauptverantwortung
trage.
Gestern versuchte ich noch einmal, meine Mutter davon zu überzeugen,
dass mit der sogenannten Wehrmachtausstellung keine Pauschalverurteilung
der Kriegsgeneration gemeint sei. Ich stand von vorneherein auf verlorenem
Posten.
Oder vielleicht auch nicht.
„Es war so schrecklich, der ganze Krieg, wir wollten nichts
mehr davon wissen“, sagte sie, während ich die Suppe löffelte,
die sie gekocht hatte.
Ich glaube ihr mittlerweile beides: dass sie alles gewusst hat,
und dass sie nichts gewusst hat. Das mag sich vordergründig
ausschließen. In diesem Fall bedingt es sich.
Auch das war das Verbrechen des Krieges: er hat seine Mitläufer
verschreckt und einsam zurückgelassen. Und es hat niemand etwas
getan, ihnen im Laufe der Jahrzehnte den Schrecken und die Einsamkeit
zu nehmen. Sie versuchten, sich beides selbst zu nehmen, indem sie
sich mit der Wendigkeit von Mäusen ein Wirtschaftswunder zur
Ablenkung schufen. In diesem hatten die Fragen der Töchter und
Söhne keinen Platz. Möglicherweise haben diese auch nur
die falschen Fragen gestellt. Oder aber die richtigen Fragen in falscher
Weise.
Mein Sohn ist mittlerweile fast siebzehn. Ich werde am kommenden
Sonntag mit ihm die Ausstellung besuchen. Zum erste Mal, obwohl ich
reichlich Gelegenheit gehabt hätte, sie schon bei früherer
Gelegenheit zu sehen. Ich kann allerdings nicht behaupten, dass ich
mich sonderlich auf dieses Ereignis freue. Das macht es für
mich Nachborenen so wichtig.
Meine Mutter hat mir mittlerweile definitiv abgesagt.
Peter Wagner
Der Artikel ist als „Kommentar der anderen“ in der Tageszeitung „Der
Standard“ erschienen.
Kommentare, Reden, Offene Briefe (Auswahl)
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