Die Leichenhallenkultur
Jede (fast jede) Gemeinde hat einen Friedhof.
Jeder (fast jeder) Friedhof hat eine Leichenhalle.
Jede Gemeinde mit Friedhof hat eine Leichenhalle zu haben.
Eine Wartestation für soeben Verstorbene auf dem Weg von der
Endlichkeit des Fleisches zur Unendlichkeit des Staubes.
Sofern sie noch nicht fertig gestellt und eingeweiht sind, werden
sie soeben fertig gestellt und eingeweiht.
Darüber hinaus ist es eine Ehre, der Premierentote zu sein.
Endlich hat der Leichengestank den Ort seiner Legitimation erhalten:
Zwischen demütig flackerndem Kerzenlicht darf er sich an glatten,
stilecht kalten und unpersönlichen Betonwänden entlangschleichen,
darf (und das ist die große Errungenschaft) „da sein“.
So wie dem Gestank der menschlichen Exkremente ebenfalls ein extra
führ ihn reservierter Platz zugewiesen wurde, das Scheißhaus.
Während der Locus der menschlichen Exkremente allerdings im
eigenen Haus existieren darf – schließlich gibt es geruchsunterbindende
Hygienekugeln –, verhält es sich bei den Leichen etwas
anders:
Hygienekugeln gegen Leichengestank sind noch nicht erfunden.
Und sind sie es schon, die Greißlerin in meinem Dorf führt
sie jedenfalls noch nicht.
Man hat Leichenhallen erfunden. Nicht etwa, um sich damit einen
Ort der intimen Begegnung zwischen den Lebenden und dem Toten zu
schaffen (wie es solche Orte bei Naturvölkern gibt).
Die Gründe dafür lassen sich verkürzen auf:
Zweckmäßigkeit, Hygiene, Einteilung, Ordnung.
Auch der Tod ist dem weltlichen Rationalismus unterworfen.
Der Müll in den Müllkorb, die Leichen in die Leichenhallen.
Man kann das Unnütze ja nicht einfach irgendwo rumliegen lassen!
Es wäre vermessen und kleinmütig, auf den wirtschaftlichen
Aspekt der Leichenhallenbauerei hinzuweisen. Auch die heimische
Wirtschaft braucht Aufträge. Jeder muss und will von irgendwas
leben und die vielen neuen Fertigbetonmischanlagen müssen sich
irgendwann einmal rentieren.
Auch nützt es wenig, wollten wir uns auf die sicherlich richtige
Feststellung versteifen, dass hier die heimische Architektenprominenz
seine trivialkünstlerischen, gottesfürchterlichen Ambitionen
austobt.
Wollen wir dem Phänomen „Leichenhalle“ näher
kommen, müssen wir uns schon in komplexere Regionen der Erkenntnis
vorwagen, wie sie sich dem kritischen Betrachter in der heutigen
Industrie- und Konsumgesellschaft darstellen.
Beginnen wir bei der auffallend symetischen Bauweise.
Sicher wird man einwenden können, auch ein gotischer Bau sei
in höchstem Maß vom Prinzip der architektonischen Symmetrie
gekennzeichnet.
Doch während die gotische Geometrie gewiss noch den demütigen,
zugleich aber höchst künstlerischen Ausdruck menschlicher
Suche nach Orientierung in einer von Gott geschaffenen Wirklichkeit
darstellt, ist der neuzeitlich aufgeklärte Mensch schon einen
beträchtlichen Schritt weiter.
Er orientiert das göttliche Wunderwerk der Schöpfung am
eigenen, erschöpften zivilisatorischen Prinzip, das da lautet:
Recht eckig und symmetrisch über alles!
Er geht den ewigen Identitätskonflikten zwischen Form und Inhalt
dadurch aus dem Weg, dass er beides für identisch erklärt.
Und ist nicht in der Tat ein schönes rechteckig-symmetrisches
Hochhaus der höchste Ausdruck des menschlichen Ordnungs- und
Bewältigungswillens, formal wie inhaltlich, das eine durch das
andere?
Das Rechteck im Hirn scheint überhaupt die bestimmende, von
innen nach außen, von außen nach innen gekehrte Kraft
des modernen Menschen, die Symmetrie jene Basis zu sein, auf der
er Standfestigkeit, Ausgewogenheit und das vielgerühmte bürgerliche
Mittelmaß aller Dinge erreicht.
Fiktion, Träume, mystische Kräfte, Fantasie erscheinen
in einer Welt der absoluten Machbarkeit, der Durchorganisierung und
lückenlosen Verwaltung des Alltags bis hinein ins kleinste Detail
als überflüssige Spielzeuge aus dem humanitären Mittelalter,
die noch dazu gefährlich zu werden drohen, sobald sie das eitle
Selbstverständnis unseres mathematischen Rechteckdenkens infrage
stellen.
Dementsprechend wird der Tod des Menschen – als sein Nicht-mehr-vorhanden-sein – ins
Rechteck gepresst.
Das Schema für sich verspricht schon Lösung und Bewältigung.
In einer Welt, in der die mathematische Formel zur einzigen verbindlichen
Wahrheit avanciert ist.
Erkenntnis I: Man baut die Leichenhallen, wie man die Wohn- und
Bürohäuser, die Schulen, Kulturzentren und militärischen
Anlagen baut.
Oder: Man baut die Schulen, Kulturzentren und militärischen
Anlagen, Büro- und Wohnhäuser so und nicht anders (nämlich
eckig, symmetrisch, zweckmäßig, kalt und ohne Fantasie),
weil man auch die Leichenhallen nicht anders bauen würde.
Womit wir beim nächsten Glied unserer Erkenntniskette angelangt
wären:
Die Leichenhalle als Asyl für die Ausgestiegenen.
Die Vorstellung vom Tod, mit dem man zumeist nur körperliches
Nicht-mehr-vorhanden-sein oder auch bloß den Sterbeprozess assoziiert,
ist unangenehm.
Das Leben ist doch so schön.
– wenn man dieses oder jenes Produkt kauft, sagt die Werbung.
Und dieses Produkt ist garantiert käuflich. Also auch das schöne
Leben.
Hinter der Werbung stecken Industrie und Wirtschaft. Sie haben es
nicht nur geschafft, den Menschen der industrialisierten Welt Wohlstand
zu bringen (oder was immer man darunter versteht), sondern sie auch
mehr von sich abhängig zu machen als umgekehrt.
Industrie und Wirtschaft ist von der Technik abhängig, und
diese nur mehr insofern vom Menschen, als sie seine Erfindungsgabe
braucht.
Der Mensch ist somit zum reinen Spekulationsobjekt, zum notwendigen Übel
einer sich verselbständigenden Produktionsmaschinerie geworden.
Er ist selbst Produkt und Ware und Handelsobjekt.
Die von ihm betriebene Konservierungs- und Unterhaltungsindustrie
versucht in ihm die Vorstellung vom ewigen irdischen Leben in Glück
und Zufriedenheit und Reichtum zu perfektionieren, sofern er nur
imstande und Willens ist, sich dieser Industrie hinzugeben.
Und heutzutag kann man doch wirklich alles haben, damit das Leben
schön wird.
Wozu also der Tod?
Bei dem vorherrschenden Angebot aller glücklichmachenden Dinge
ist der Tod unnötig.
Der Tote auch.
Ihn im eigenen Haus, d.h. in der eigenen Wirklichkeit aufzubahren
brächte die Gefahr mit sich, mit dem Sterben des Menschen inmitten
einer bunten und angeblich sorgenfreien Welt auf elementare Weise
Bekanntschaft zu machen.
Es aus seiner monströsen Flüchtigkeit herauszuschälen
und über die oberflächlich trauernde Anteilnahme hinaus
in sich selbst wesentlich werden zu lassen.
So aber erlaubt es uns der (gemachte) Glaube an das Glücklichsein
durch den Besitz aller glücklichmachenden Dinge, den Tod eines
nahe stehenden Menschen als schockartiges Verlusterlebnis zu
empfinden. Man überwindet es dadurch noch am besten, dass man
sich von der Vorstellung des eigenen Verlorengehens befreit und den
Verlorengegangenen (ist gleich Verlust ist gleich Pleite) so schnell
wie möglich in ein für derartige Pleiten vorgesehenes Haus
verdrängt, in die Leichenhalle eben.
Der Leichenschmaus wird folgerichtig nicht mehr als Fest des Lebens
im Angesicht des Todes, sondern als Verzehr der Konkursmasse des
Toten im Angesicht des (wie ein Besitz) verloren gegangenen Lebens
gefeiert.
Erkenntnis II: Die Verdrängung des Todes, selbst in seiner
veräußerlichten Form als Leiche, wird umso notwendiger,
je mehr Wirtschaft, Industrie und Medizin den Traum des Menschen
von seiner Unsterblichkeit als Grundlage ihres ungehemmten Expansionsdranges
missbrauchen.
Erkenntnis III: Gründe der Hygiene erweisen sich bei näherer
Betrachtung als vorgeschobene Rechtfertigungen für die Angst
des auf materiellen Besitz orientierten Menschen vor der Vorstellung
seines Daseins als verwesender Endlichkeit. Dieses elementare, jedoch
verdrängte Wissen führt zu einer generellen Erlebnissterilität,
die umgekehrt wieder durch von der fortschrittlichen Technik gewährleisteten
Ersatz kompensiert zu werden verspricht.
Hat man den Toten (den Tod) nun endlich außer Haus gebracht
bzw. aus der eigenen Realität verbannt, reduziert sich das Ritual
des Bestattens auf seine von äußerlichen Notwendigkeiten
bestimmte Form.
Und Formalitäten zu erledigen ist man gewohnt.
Wodurch sich das Risiko einer tief greifenden Berührung mit
dem Toten abermals verringert.
Erkenntnis IV: Der Gang zur Totenwache und zum Begräbnis kommt
dem lästigen, aber leider notwenigen (weil vorgeschriebenen)
Gang zur Behörde zwecks Verlängerung eines Reisepasses
gleich. Die Erledigung dieses notwendigen Übels garantiert jedoch
Ruhe für die nächsten Jahre d.h. bis zum nächsten
Toten.
Erkenntnis V: Nur wer nicht wirklich zu leben imstande ist, hat
es nötig, den Tod zu verdrängen. Tatsächlich wird
er jedoch nur von der Oberfläche verdrängt, daher weder
bewältigt noch integriert. Die Gesellschaft als Spiegelbild
des Menschen und der Mensch als Spiegelbild der Gesellschaft sind
hinter der glanzvollen Fassade des Wohlstands durch Technik und Industrie
immer deutlicher von jener gigantischen Krankheit gezeichnet, deren
Existenz immer drastischer zu leugnen versucht wird.
Diese Krankheit nennt sich Tod.
Erkenntnis VI: Jede Leichenhalle hat ihre Gemeinde.
Erkenntnis VII und Fazit:
Es werden nur mehr Leichenhallen gebaut.
Peter Wagner
Erschienen in der 1. burgenländischen Umweltzeitschrift „Burgenländer!
Wir brauchen keine intakte Umwelt!“, herausgegeben von den
Aktionsgruppen ku-le-bum (Eisenstadt) und Oawaschlschluifer (Südburgenland)
im Herbst 1979
„Ausnahmsweise Oberwart“ – Aktionsreihe
der „Oawaschlschluifer“
Kommentare, Reden, Offene Briefe (Auswahl)
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