Die verführte Intelligenz
Rede, gehalten anlässlich des 25jährigen Bestehens
der Volkshochschulen des Burgenlandes
24. Oktober 1994, Eisenstadt
Es hatte gerade zu einem Eklat gereicht. Zu ein paar Zeilen in einigen
wenigen Printmedien. Allzu breit schien man die Sache allerdings
nicht treten zu wollen - sie argumentativ auszutragen, beinhaltete
doch zuviel Sprengstoff. Charlotte Höhn, die Leiterin des deutschen
Instituts für Bevölkerungsforschung, hatte die Kairoer
Bevölkerungskonferenz Anfang September dieses Jahres vorzeitig
verlassen müssen. Es sei legitim zu sagen, hatte sie gesagt,
daß "die durchschnittliche Intelligenz der Afrikaner niedriger
ist als die anderer."
Mittlerweile ist sie wegen rassistischer Äußerungen ihres
Amtes enthoben. Als geladener Gast auf dem afrikanischen Kontinent
dem Gastgeber zu sagen, er sei dumm, erzählt nicht nur von Pietät-
und Geschmacklosigkeit, von Ignoranz und mangelnder eigener Intelligenz,
sondern weit mehr noch von jener Arroganz, die den Herrenmenschen
seit jeher eigen ist: durch die Abwertung eines ganzen Volkes, in
diesem Falle sogar eines ganzen Kontinents, sich selbst mit dem Status
des Erhobenen, also Erhabenen, zu schmücken.
Vom Erhabenen zum Erwählten, zum selbsterwählten Weltenführer
ist es dann - zumindest geistig, aber wie wir in diesem Jahrhundert
gesehen haben auch faktisch - kein großer Schritt mehr. Mit
dem moralischen Recht auf Führerschaft geht das durch sie legitimierte
Recht auf Krieg und Völkermord Hand in Hand: Man muß nur
in ausreichendem Maße überzeugt sein von der eigenen Erwähltheit,
man muß nur glauben an die eigene Mission des Weltenretters
und Weltenherrschers. Der Glaube sprengt letztlich Grenzen. Insoferne
waren alle Kriege zu allen Zeiten rassistisch. Rassistisch und Glaubenskriege.
Gewiß: Frau Höhn hatte wahrscheinlich gar nicht irgendein
ethnisch-rassisches Vorurteil in der Eigenart der Nazipropaganda
im Sinn, das hatte sie auch gar nicht nötig. Wer die Wissenschaft
bemüht, die Welt der empirischen Zahlen und Daten, der Meßbarkeiten
und Zuordnungen, der braucht sich um die scheinbare Objektivität
seines Argumentes nicht zu sorgen.
Nehmen wir also einmal an, je hundert oder tausend Europäer,
Amerikaner, Südamerikaner, Asiaten und Afrikaner werden Formulare
unterbreitet oder Computer vor die Nase gesetzt. Es gilt, gewisse
Aufgaben zu lösen. Dazu läßt man die Uhr ticken.
Das Ganze nennt sich: "Wir Menschen der Welt messen unsere Intelligenz.
Damit wir wissen, wer von uns die Besten sind." Am Ende werden
die Ergebnisse ausgewertet, die Punkte zusammengezählt, selbstverständlich
analysiert und kommentiert, Rückschlüsse gezogen und allgemeine
Erkenntnisse formuliert. So weit, so infantil.
Selbstverständlich aber werden die Wissenschafter - denn die
sind ja nicht dumm - die jeweiligen ethnischen, kulturellen, kulturhistorischen,
soziologischen, psychologischen, gesellschafts- und realpolitischen,
altersspezifischen, religiösen Faktoren und Eigenheiten der
Europäer, Amerikaner, Südamerikaner, Asiaten und Afrikaner
in der didaktischen Gestaltung ihrer Testformulare und Computerprogramme
berücksichtigt haben. Schließlich dient die Wissenschaft
dem Gral der Objektivität, nicht dem Mistkübel der Spekulation.
Aber auch die noch so differenzierende Auswahl der Testkriterien
ist schon höchst problematisch, um nicht gleich zu sagen untauglich.
Wie wird sich Intelligenz jemals messen lassen, wenn sie nicht die
Annäherung an den tieferen, intuitiven Kern der menschlichen
Seele, der Seele der Völker, an das schöne Eigene, das
unverwechselbare Selbst beinhaltet? Das schöne Eigene und das
unverwechselbare Selbst aber entziehen sich der Meßbarkeit.
Die Empirie müßte schweigen, wo sie nichts zu suchen hat.
Genau das aber wollen und werden wir nicht zulassen. Demut vor der
in sich geborgenen Aura der menschlichen Würde ist die Sache
der Wissenschaft nicht. Und so wird uns die Magie der Zahlen und
Tabellen und Auswertungen am Ende die Botschaft läuten: "Die
durchschnittliche Intelligenz der Afrikaner ist niedriger als die
anderer."
Was werden sie sich noch alles gefallen lassen müssen, die
Menschen dieses aufregenden und schönen, von der aggressivsten
aller Rassen, der weißen Rasse am meisten verschacherten und
vergewaltigten, ausgebeuteten und ausgehungerten und ausgebluteten
Kontinents, der als die Wiege der Menschheit gilt?
Es wäre also nur noch zu klären, wer die anderen sind.
Die Intelligenteren dieses Planeten. Die, die es immer schon waren.
Wir also. Und vor allem wir in unserer schönen, neuen, hochzivilisierten
und arroganten Welt der unbegrenzten Machbarkeiten.
Allgemein gelten bereits Schimpansen, die körperfremde Gegenstände,
z.B. Stöcke und Kisten dazu verwenden, um außerhalb der
eigentlichen Reichweite liegendes Futter zu erreichen, als intelligent.
Stanley Kubrik läßt in seinem Film "2001: Odyssee
im Weltraum" zwei verfeindete Halbaffenstämme im Kampf
um einen Wasserplatz aufeinander treffen. Die Verteidiger werden
mit wilden Drohgebärden verjagt. Einer der Leithammeln der vertriebenen
Gruppe findet am Skelett eines verendeten Stieres einen ellenlangen,
kräftigen Knochen und schlägt auf die kleineren Knochen.
Je stärker er schlägt, umso eher zerbrechen diese. Bis
der Hammel den Knochen mit solch brachialer Wucht auf den Schädelknochen
des verendeten Tieres niedersausen läßt, daß dieser
in hunderte Teile zersplittert.
Bei der Zurückeroberung des Wasserplatzes sind die Leittiere
der diesmal Angreifenden alle mit solch kräftigen Knochen ausgestattet.
Die Verteiger versuchen wie üblich, die Angreifer mit Drohgebärden
zurückzudrängen. Der Leithammel der Angreifer reibt plötzlich
auf und schlägt seinen Knochen auf den Kopf des verteidigenden
Leithammels. Weitere unkontrollierte Hiebe folgen, der getroffene
Leithammel liegt regungslos im Sand.
Zweifellos war der Benützbarkeit des Knochens als Werkzeug,
als probates Mittel zum Zweck eine intellektuelle Erkenntnis vorangegangen:
Haue ich fest genug hin, zerbricht der Schädel des anderen.
Das Produkt einer ersten intelligenten Regung wäre somit ein
Tötungsakt gewesen, das erste Werkzeug ein Tötungsinstrument.
Die Botschaft ist zudem eindeutig, als Kubrik dieses Einleitungskapitel
mit "Aufbruch der Menschheit" übertitelt.
Nun handelt es sich hier natürlich nur um eine der vielen möglichen
Hypothesen über den tatsächlichen Aufbruch der Menschheit
vor vielen Tausenden Jahren, und man könnte die Sichtweise des
Filmemachers Kubrik ohne weiteres in die Kategorien "pessimistisch", "fatalistisch", "vereinfachend",
ja "demagogisch, zynisch und verächtlich" einordnen.
Fände nicht Kubriks fatalistische Vision eine handfeste Bestätigung
auch im aufgeklärten Zwanzigsten Jahrhundert: die größten
Forschungszentren der Welt werden nicht von zivilen Einrichtungen
unterhalten, sondern von militärischen. Konkret: von der Armee
der Vereinigten Staaten von Amerika.
Das Beste, was die USA an Intelligenz zu bieten hat, rekrutiert
sich aus den diversen universitären Zuchthäusern der Wissensvermittlung
und ist nicht damit beschäftigt, sich um eine humanitäre
Gesellschaft mit einem funktionierenden Sozial- und Krankenversicherungswesen
zu bemühen, sondern das Land mit einer Technologie zu versorgen,
die der Führungsmacht ihren selbsterwählten Status in der
Welt sichert. Die Intelligenz ist zudem hoch bezahlt, solange sie
im Sinne der ihr zugedachten Aufgabe funktioniert: sie dient, noch
lange bevor die Auswirkungen der Forschung auf den zivilen Sektor
umschlagen, zuersteinmal der Entwicklung und Produktion von Vernichtungs-
und Massenvernichtungsmitteln.
Die in New York veranstaltete größte Konfettiparade aller
Zeiten nach dem 1. High-Tech-Krieg der USA gegen den Irak galt denn
auch in Wirklichkeit nicht - wie in früheren Zeiten - der kämpfenden
Truppe. Die kam in der irakischen Wüste tatsächlich kaum
zum Einsatz. Sie galt der neuen, alles überstrahlenden Göttin:
der Technik. Geboren aus hunderttausend Köpfen, deren überdurchschnittliche
Intelligenz zum Zwecke der Vernichtung funktionalisiert worden war
und weiterhin funktionalisiert wird.
Intelligenz ist ein seltsames Wort. Und ein noch seltsamerer Begriff.
Ganz selbstverständlich kommt uns das Wort "intelligent" von
den Lippen, so selbstverständlich wie die Wörter groß und
klein, Gehstock und Auto, hassen und lieben. Ein Kind, das mit vier
bis dreißig zählen oder mit sieben fließend lesen
kann, nennen wir gemeinhin überdurchschnittlich intelligent.
Als überaus intelligent werden wohl Menschen gelten, die mit
zweiundzwanzig drei Hochschulstudien abgeschlossen haben. Und einer,
der einen Bankomat-Code zu knacken und Kunden und Bank um Millionen
zu erleichtern imstande ist, gilt dem Strafgesetzbuch nach zwar als
Krimineller, niemand wird ihm jedoch absprechen, hochintelligent
zu sein.
Beim ersten Hinsehen scheint die begriffliche Bestimmung des Wortes "Intelligenz" eindeutig
und klar zu sein. Beim zweiten Hinsehen ist sie das schon weniger.
Aus den beiden Worten, die dem lateinischen intellego zugrunde liegen,
nämlich inter und lego, läßt sich unschwer nachvollziehen,
daß Intelligenz im eigentlichen Sinn des Wortes erstens etwas
mit einem Zwischenbereich, zweitens mit einer Sammlung, einer Auslese,
einer Auswahl im Sinne einer Suche zu tun hat. Intelligenz ist im
ursprünglichen Sinne das, was uns befähigt, zwischen den
Dingen der Welt etwas herauszusuchen, herauszufinden. Etwas zu erkennen.
Weil sie in den Raum zwischen den Dingen eindringt, berührt
sie sie an zwei Seiten: an dieser und an jener. Sie lernt, die Dinge
zu benennen. Schließlich erkennt sie sie nicht nur als getrennt
von einander, sie weiß auch, worin diese Trennung besteht:
sie kennt ihre Unterschiede. Wer aber die Unterschiede kennt, der
kennt auch das Gemeinsame, das Verbindende. Intelligenz ist mithin
auch die Brücke zwischen den Dingen der Welt, das Wissen um
ein gemeinsames Schicksal, der tiefere Blick in die Höhen und
Abgründe göttlicher Schöpfung und der menschlichen
Existenz in ihr.
Sosehr darunter selbstverständlich auch die menschliche Ratio
in allen ihren wuchernden Formen des Suchen und Findens, des Erkennens
und Verwerfens zu verstehen ist, so sehr ist Intelligenz immer auch
die tiefere, metaphysisch durchdrungene Einsicht in die Endlichkeit
und Grenze des menschlichen Seins und Geistes.
In welchem Intelligenz-Test allerdings wird der einsichtige Umgang
des Menschen mit der Erkenntnis seines Schicksals erhoben? Ich wage
zu behaupten: in keinem. Es würde sämtliche gängigen
Theorien über die Intelligenz und ihre Meßbarkeit radikal über
den Haufen werfen. Und unserer hypertroph hochzivilisierten Welt
wahrscheinlich ein vernichtendes Zeugnis ausstellen.
Im biblischen Schöpfungsmythos hieß der erste intelligente
Mensch nicht Adam, sondern Eva. Dies wird ihr offenbar heute noch übel
genommen. Denn sie war es, die die Trennung von der Geborgenheit
in der Natur, in Gott, vom fortgesetzten Schlaf des Bewußtseins
im unendlich reichen und schillernden Aufgebot des Unbewußten
vollzog. Sie gab den Weg vor: sich die Frucht des verbotenen Baumes
einzuverleiben, um in den Besitz der Erkenntnis von Gut und Böse
zu gelangen.
(Den ersten Biß tat freilich Adam - zur Ehrenrettung des männlichen
Geschlechts. Allerdings ganz im Sinne der Legende: Hinter jedem erfolgreichen
Mann steht eine Frau.)
Vital im Sinne von folgerichtig und folgenschwer für das Leben
wurde die Intelligenz aber erst mit dem ersten Tötungsakt durch
Kain, der seinen Bruder Abel erschlug. Kain begann seine Intelligenz
zu gebrauchen, denn anders als Eva, die für ihr sündhaftes
Tun mit einem Fluch beladen und aus dem Paradies vertrieben wurde,
mußte Kain sich vor dem fragenden Gotte rechtfertigen. Er war
der erste, der die List, die Ausrede, den Widerspruch und das Argument
erfand. Allerdings auch die Einsicht, denn er hat das Urteil Gottes
anerkannt. "Unstet und flüchtig sollst du auf Erden sein!" warf
Gott ihm seinen Fluch hinterher. Und Kain ging und war unstet und
flüchtig. Und seine Kinder und Kindeskinder waren und sind es
noch viel mehr.
Man wird allerdings den Eindruck nicht los, daß die Intelligenz
von allem Anfang an, bereits mit dem berühmten Biß Adams
in den Apfel der Erkenntnis, auch das stete Schuldgefühl der
Schöpfung darstellt, sozusagen einen hysterischen Betriebsunfall
der Natur. Womit zumindest ein hypothetischer Ansatz für den
Verdacht vorhanden wäre, daß sie, die hysterische menschliche
Intelligenz, als luziferisches, naturfremdes Phänomen in ihrer
allerhöchsten Konsequenz nach Selbstaustilgung strebt.
Doch ist nicht, solange dieses Schuldgefühl der selbstbewußten
Schöpfung innewohnt, auch noch eine Scham vorhanden, diese restlos
zu zerstören? Ist nicht gerade die Scham in der Erkenntnis der
eigenen Nacktheit eines der Folgeprodukte des Bisses in den Apfel
der Erkenntnis, des Beginns der Intelligenz und also ursprünglich
mit ihr verbunden?
Mörder sind Menschen ohne Scham. Sind es auch die, die ihnen
die Waffen in immer größerem und komplexerem Umfang bauen,
nicht nur als konventionelle Kriegswaffen, sondern als Psychowaffen,
als mentale Mordwerkzeuge, als die Atombombe der Bilder, wie Paul
Virilio das Fernsehen nennt? Leben wir mithin in einer völlig
schamlosen Zeit?
Vielleicht sollten wir gerade in der sogenannten hochzivilisierten
Welt der Machbarkeiten den Begriff der Erbsünde, die ich eher
als eine in jedem Menschen schlummernde schamhafte Urschuld verstehe,
neu überdenken, ohne dabei in die Klischees pragmatisch-rationaler
Argumentation zu verfallen. Die Einbeziehung der Scham als natürliche
Gegenkraft zum Hochmut des Intellekts, von dem Thomas Mann spricht,
wäre ein Ansatz für eine neue Ethik eines gesamtheitlichen
Menschen in einer auf tausend Fachbereiche zersplitterten, restlos
säkularisierten Welt.
Ich werde nocheinmal auf die Scham als Wesensmerkmal der vitalen
Intelligenz im Gegensatz zur funktionalen Intelligenz zurückkommen.
Wie sieht es nun tatsächlich aus mit unserer Intelligenz?
Wir haben Krankheiten wie Pest und Cholera, die Tausende Jahre als
unausrottbar galten, mehr oder weniger in den Griff bekommen. Mit
einigen Ausnahmen: den Tod haben wir noch nicht besiegt, und auch
nicht die Melancholie. Und auch Aids noch nicht, weshalb ihr von
erzreaktionären katholischen Kreisen gleich die Etikette "Strafe
Gottes" angeheftet wird. Allerdings wird die Qualität der
Kondome am elektronischen Prüfstand laufend besser - nur die
mag wiederum die Kirche nicht.
Es ist uns gelungen, Licht in die Finsternis der Nacht zu bringen,
wenngleich das Licht in unseren Herzen deshalb nicht leuchtender
geworden ist. Wir sprechen miteinander über die Kontinente und
werden uns demnächst dabei sogar in die Augen sehen. Wir haben
Flugzeuge konstruiert, die wenigsten davon stürzen ab. Und wir
haben den Mond bestiegen. Daß die Fruchtbarkeit schon lange
nicht mehr von ihm abhängig ist und neuerdings auch im Labor
bewerkstelligt werden kann, wird ihn nicht gerade traurig machen.
Überhaupt Fruchtbarkeit: Wissenschaft und geschäftlicher
Ehrgeiz sorgen dafür, daß sie in Zukunft zur hochbezahlten
Kostbarkeit wird. Dann nämlich, wenn sich die männliche
Zeugungskraft durch den Einsatz künstlicher Östrogene auf
ein nicht mehr Vorhandenes reduzieren wird. So reguliert sich das
Problem der Überbevölkerung vielleicht ganz von selbst,
ohne daß wir neue Seuchen oder Kriege erfinden müssen.
Glauben wir Sir Karl Popper, so leben wir heute in der besten aller
Gesellschaften. Nur sei sie noch immer zu schlecht.
Immerhin haben wir in diesem Jahrhundert auch erkannt, daß Tötungen
im Massenverfahren mit Gas effektiver sind, auch wenn dadurch ein
gewisser Notstand bei den Verbrennungsöfen entstand, sie kamen
bei der Masse der gelieferten Leichen nicht nach.
Wir könnten sogar innerhalb von Tagen, wenn nicht Stunden die
gesamte hungernde Weltbevölkerung mit Nahrung versorgen. Aber
wir tun es nicht. Es gibt letztendlich zu viele rationale, sprich:
intelligente Argumente, die dagegen sprechen. Und zu viele Interessen,
die es unterbinden. Moral ist noch allemal teilbar. Oder in Abwandlung
des Satzes von Brecht: Erst kommt die Moral. Und dann kommt das Fressen
noch lange nicht nach.
Teilbar wie die Moral ist auch unsere Intelligenz. Teilbar und spezialisierbar.
Und das gar nicht einmal freiwillig, sondern notgedrungen. Denn in
dem Maße, wie die Welt durch Informations- und Verkehrsnetze
kleiner geworden ist, in dem Maße ist sie groß und größer
und letztlich unüberschaubar, ja mönströs geworden.
Kein menschliches Hirn wäre heute noch imstande, all das vollkommen
unüberschaubar gewordene faktische Wissen noch zu fassen, das
Forschung und Technik bisher zusammengetragen haben und täglich
weiter aufhäufen. Die Welt hat nicht mehr Platz in einem Kopf.
Und heimlich spüren wir, daß auch die Wahrheit nicht
mehr Platz hat in einem Kopf. Je mehr uns die Welt der Erklärungen
an Möglichkeiten zur Einsicht bietet, desto ratloser wird unser
kleinmütiger Sinn. In dem Vielen an Welt ist der einzelne kleine
Mensch lange schon verloren. Er sehnt sich nach Gewißheit von
außen, je weniger er sie findet in sich selbst. Der Boden ist
aufbereitet für die Vereinfacher, die ihm aus dem Vielen an
Welt das übersetzen, was für ihn noch oder schon wieder überschaubar
ist - zu welchem Zwecke sie das tun, ist ihm dabei fast schon egal.
Am überschaubarsten sind Parolen und diffuse Heilsphantasien.
Und nicht nur in der Welt der Politik.
Je mehr ihm das Vertrauen in seine eigene Erkenntnisfähigkeit
verloren geht, umso mehr sucht der Mensch sich an der gesicherten,
in Wahrheit aber nur scheinbar gesicherten Erkenntnis durch die Wissenschaft
oder durch fundamentale politische oder religiöse Offenbarungen
zu orientieren. Das bedeutet nicht nur, daß er damit sein Ego
endgültig an den fremden Heilsbringer delegiert. Es bedeutet
auch, daß die Wissenschaft den Rang einer fundamentalen religiösen
Offenbarung eingenommen hat. Und in der Tat: die zahlenmäßig
wahrscheinlich größte Religionsgemeinschaft der sogenannten
zivilisierten Welt bilden die Wissenschaftsgläubigen.
Wie weit sich die Intelligenz dabei von ihrer vitalen, ethischen
Basis entfernt hat und weiter entfernt, mögen einige Beispiele
umreißen. Wir kennen sie alle, ich wiederhole sie nur. Ich
wiederhole sie, damit wir sie nicht vergessen:
In der Debatte über den Einsatz der Atomkraft in Österreich
hatte einer der verbissensten Befürworter der Kernenergie ein
fürwahr bestechendes Argument ins Rennen geschickt: es sei zum
gegenwärtigen Zeitpunkt vollkommen unerheblich, ob die Frage
der Endlagerung atomarer Brennstäbe gelöst sei oder nicht.
Die Fortschritte der Technik würden es irgendwann in Zukunft
ermöglichen, dieses Problem zu lösen. Es wäre daher
hirnrissig, das Risiko der Atomkraft nicht auf sich zu nehmen.
Einige Jahre später war die Technik den Nimbus der heilspendenden
Göttin endgültig los. Das Waterloo der Technik hat heute
einen Namen, den auch die Kinder schon kennen, nicht nur die mit
den zu groß gewachsenen Schilddrüsen: Tschernobyl.
Wenn etwa ein Gen-Forscher im Club 2 sagt, in Zukunft hätte
niemand mehr das Recht, einen behinderten Menschen in die Welt zu
setzen, so kommt das einem ethischen Konkurs gleich, der endgültigen
Resignation vor den Phantasien einer genetisch restlos perfekt stilisierten,
ja gestylten, einer ästhetisch wie gedanklich wie moralisch
normierbaren Welt. Die Methodik jedoch, die hinter solchen Phantasien
steckt, ist das Produkt verführter und einseitig funktionalisierter
Intelligenz.
Edward Teller, ein Großmeister der Kunst der Physik und wohl
auch der der technischen Demagogie, hat uns mit einer außergewöhnlichen
Erfindung beschenkt, der sog. Neutronenbombe. Ihre ganz phänomenale
Wirkung besteht darin, daß sie die Menschen in Panzern oder
Häusern zwar tötet, die Panzer und Häuser aber völlig
unbeschädigt und nach kurzer Zeit bereits für den Eroberer
wieder nutzbar hinterläßt.
Dabei kann man Edwar Teller nichteinmal eine ganz besonders heimtückisch
ausgeprägte persönliche Perfidie unterstellen. Seine Erfindung
stellt im Grunde nichts anderes dar als die so hochintelligente wie
konsequente Interpretation der Logik moderner Kriegsführung.
Am schlimmsten jedoch, und - wie ich meine - folgenschwersten wird
der Mißbrauch und die Verführbarkeit der Intelligenz an
unseren Kindern augenfällig.
"Computerabhängige Kinder", heißt es in einem
Kurier-Artikel von letzter Woche, "erleben die gleiche euphorische
Stimmung, wenn sie spielen und - gehen durch die Hölle, wenn
ihnen der Joystick entzogen wird. Sie leiden dann genauso wie Alkoholkranke
oder Raucher. ... Beobachtet wurden 147 Elfjährige, von denen
48 Prozent fast jeden Tag mit dem Computer spielten. Es stellte sich
heraus, daß ein Drittel von ihnen ihre Hausaufgaben und ihre
Freunde vernachlässigten, wenn sie die Chance zum Computerspielen
hatten. Besonders registriert wurde die Unruhe, wenn diese Kinder
nicht den Joystick in der Hand hielten und auf einen Bildschirm starren
konnten."
Wir schicken sie nicht mehr in den Krieg der körperlichen Vernichtung,
wir lassen sie im Krieg der rasenden Bilder brennen und innerlich
verglühen.
Während sich die Erwachsenen in ihrer dröhnenden inneren
Einsamkeit diversen Drogen hingeben, bis hin zum Macht- und Geschwindigkeitsrausch,
flüchten die Kinder vor den Computer. Seltsam: wir warnen sie
vor Alkohol, Nikotin und Drogen aller Art, mokieren uns über
die früher gehandhabte Sitte, den Kindern zum Einschlafen Mohnextrakte
zu verabreichen, aber wir stellen ihnen meist bedenkenlos, manchmal
mit schlechtem Gewissen, aber doch, Bildschirme und Computer in die
Kinderzimmer.
Wir warnen sie nicht vor dem Rausch der ganz anderen Droge Technik.
Offenbar aus dem irrigen Glauben heraus, sie würde uns und unseren
Kindern jene Intelligenz abverlangen, die wir zum Überleben
brauchen. Dabei übersehen wir, daß der unersättliche
Rausch der Technik uns und unsere Intelligenz bisweilen schon lange
nicht mehr fordert, sondern nur noch benützt um ihrer selbst
und unseres infantilen Spieltriebes willen; daß sie, die so
verlockend schnurrende und lächelnde Göttin, schon lange über
uns und unsere dargebrachte, ja geopferte Kreativität verfügt
wie ein Diktator über seine Krieger.
Diktator und Krieger, der Vergleich ist nicht so unangebracht. Die
Göttin ist zwar eine sanfte Verführerin, ihr Charisma zeitigt
deshalb noch lange nicht das Ergebnis der Sanfmut, im Gegenteil:
Wir erleben gerade in der alles überwuchernden Unterhaltungsindustrie
ein beängstigendes Zusammenprallen von Technik und Gewalt und
damit verbunden eine zynische Entwertung des menschlichen Lebens
als das höchste, in sich schützenswerte Gut.
Vollkommen transparent wird die Reduzierung des Intelligenzbegriffes
auf seine funktionale Ebene, wenn wir schließlich von "intelligenten
Maschinen" sprechen.
Maschinen sind nicht intelligent, sie sind effektiv in der für
sie vorgesehenen Funktion, wobei es einfache Maschinen gibt, wie
das Fahrrad, und hochkomplizierte, die mittlerweile imstande sind,
sogenannte virtuelle Realitäten zu erzeugen, Lügenräusche
des traurigen Traums von einer fiktiven, vielleicht besseren
Ersatzwelt.
Dennoch verfügt eine Maschine über keine eigene Gewissens-
oder Bewußtseinsdimension, außer der ihr vom Menschen
einprogrammierten. Und sollte eine Maschine eines Tages über
eine eigene, aus sich selbst geborene Transzendenz verfügen,
so wäre sie keine Maschine mehr, sondern ein eigenes Wesen mit
eigener ethischer Daseinsgrundlage und Verantwortung.
Ich will mir solch ein Wesen nicht ausmalen. Ich denke aber doch,
daß nicht so sehr die Gefahr besteht, daß Maschinen zu
eigenverantwortlichen Individuen werden, als daß eigenverantwortliche
Individuen, sprich: Menschen, zu Maschinen mutieren. Nicht nur die
seit der industriellen Revolution bekannten Produktionsmethoden steuerten
dieser fatalen Entwicklung menschlicher Kreativität zu, sondern
und vor allem auch die anscheinend freiwillige Eingliederung des
modernen Menschen in das Massenangebot von Konsum, Freizeit, Unterhaltung
oder schlichtweg Ablenkung.
In dem Maße, in dem Individualität von der Freizeitindustrie
sozusagen propagiert und als Massenware angeboten wird, in dem Maße
verfällt sie in ihrer eigenen Egalität und Ziellosigkeit.
Der moderne Mensch ist ein Wesen, das weiß, daß es ein
Leben gibt, ihm rasend hinterher läuft, um es endlich in seinen
Besitz zu bringen, wie man Geld und Macht in seinen Besitz bringt,
aber siehe: das Leben läuft ihm davon, denn tatsächlich
ist das Leben der Hort der Poesie: es ist unkäuflich. Und gewaltsam
einzufangen ist es schon gar nicht.
Kein anderes Jahrhundert der Menschheitsgeschichte hat die Psychose
derart zum Lebensprinzip erhoben wie dieses zwanzigste Jahrhundert,
das astreine Folgeprodukt der Aufklärung, die noch vor 200 Jahren
mit der Idee von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in
die große bürgerliche Revolution gegangen ist.
Heute steht der aufgeklärte Mensch vor sich als dem sich selbst
reflektierenden Monstrum, das so viel von sich weiß, daß es
alles von sich vergessen hat und nun dem Wahn verfallen ist, sich
mit psychomathematischer Denkarbeit selber konstruieren, sozusagen
neu erfinden zu können.
Hier endlich ist die Bezeichnung "intelligente Maschine" tatsächlich
angebracht!
Die Wissenschaft von einer Sache ersetzt das Wissen um eine Sache.
Die Wissenschaft vom Menschen ersetzt das Wissen um den Menschen.
Es ist, als hätten wir das Plakat unserer selbst an eine Wand
gemalt und versuchten, ihm Leben mittels Formeln, Analysen und Therapien
einzuhauchen, um von diesem zu erfahren, wer wir sind.
Die Wissenschaft hat uns, zugegeben, niemals ein Versprechen gegeben,
wir sind es, die absurde Ansprüche an sie stellen: die grenzenlose
Machbarkeit, der uralte Traum von der eigenen Unendlichkeit, die
endgültige Emanzipierung von Gott.
Schmerzhaft werden wir einsehen müssen, soferne wir es nicht
schon eingesehen haben, daß der zum Greifen nahe Traum nur
ein Trugbild ist. Daß wir alle jener Tantalos sind, der für
seinen Hochmut bezahlt: wir wollten die Göttin herausfordern
und haben mit ihr gepokert; sie hat sich eine harte Strafe für
uns ausgedacht, indem sie den Inhalt unserer Begehrlichkeit über
unsere Köpfe hängte: sich selbst, das suggerierte, wenn
nicht versprochene Leben, reich und verlockend - allerdings in einem
Bildschirm gefangen. Wir stehen darunter, sehen in den Bildschirm
und greifen danach. Und vertrocknen in der Qual, das Leben
niemals wieder aus ihm herausholen zu können.
Man spricht heute gerne vom Versagen, ja vom Niedergang der Ideologien.
So wenig das falsch ist, so wenig ist es wahr: wir erleben weltweit
den Endsieg des Kapitalismus, und selbstverständlich ist der
Kapitalismus kein gottgewolltes Naturereignis, sondern eine von Menschenköpfen
vorbereitete und geschaffene Ideologie, die Anspruch auf die naturgegebene
Allgemeingültigkeit ihrer Doktrin erhebt und sich auf geschickte
Weise der verführbaren Intelligenz bedient.
(Ich darf vor diesem Auditorium davon ausgehen, daß man versteht,
daß ich durch meine prinzipielle Kritik am Kapitalismus nicht
automatisch das gescheiterte Experiment des real existierenden Sozialismus
verteidige oder gar propagiere. Meine Kritik beinhaltet ebensowenig
die Behauptung, im Besitz einer allgemeingültigen Wahrheit zu
sein.)
Wie alle Endsiege auf doktrinärer Basis mündet auch der
Kapitalismus direkt in der Tyrannei, in der Tyrannei einer anderen
Göttin, die sich Wirtschaft nennt. Wir erleben die Reinstallierung
der Freien Wildbahn mit dem Recht und Gesetz des Stärkeren im
immer brutaler und ungezügelter werdenden Dschungel des Freien
Wettbewerbs, der von seinen Vor- und Anbetern euphemistisch als "Abenteuer
Wirtschaft" plakatiert wird. Wie abenteuerlich das tatsächlich
ist, beweisen nicht nur die nach und nach entstehenden und schon
entstandenen Zwei/Drittel-Gesellschaften, die bewußt in Kauf
nehmen, daß ein Drittel der Gesellschaft einem ungewissen Schicksal überlassen
ist und unter Umständen zu dahinvegetierenden Untermenschen
mutiert. Auch die auf Dauer noch schmerzhafter spürbaren Treibhauseffekte
und Ozonlöcher über unseren ratlosen Häuptern werden
dereinst - sofern sie es nicht heute schon sind! - zu traurigen Denkmälern
unseres abenteuerlichen Wahns von der unbegrenzten Machbarkeit im
ungezügelt freien Spiel der Kräfte.
Auf die Dauer werden uns Credo und Zwang zum steten Wirtschaftswachstum
zurückführen auf den Status einer primitiven, mafios-kriminellen
Gesellschaft, in der das ultimative Recht des Stärkeren zur
unumschränkten Doktrin avanciert ist - damit will ich keineswegs
die wenigen, gerade noch vorhandenen sog. primitiven Kulturen beleidigen.
Denn deren Leben ist - solange es nicht mit unserer Kultur in Berührung
gekommen ist - in der intakten Demut vor der Göttlichkeit der
Natur nicht im entferntesten so sinnentleert wie das unsere.
Aber das ist ja unsere satte Tragödie in den Systemen der unbeschränkten
Machbarkeiten: je sinnentleerter wir sind, desto mehr fressen wir
in unsere nimmersatten Bäuche hinein, damit sie nur umso leerer
werden und wir nur umso mehr fressen müssen. In makabrer Analogie
zu den Tieren verwenden auch wir im Grunde unsere Intelligenz nur
noch darauf, uns jenes Fressen zu besorgen, das wir zum Überleben
brauchen. Intelligent ist, wer überlebt. Mit allen erlaubten
und mehr noch unerlaubten Mitteln. Der einzige Unterschied zu den
Tieren, die sich gerade das nehmen, was sie brauchen: wir fressen
die ganze Welt. Der Abfall dieser zwanghaften Beutesucht, dieser
neurotischen Räuberei und Vermessenheit sind am Ende wir selbst:
psychotischer, pathologischer Sondermüll, Gefäße
mit unbestimmtem Inhalt.
Meine bisherigen Ausführungen könnten den Eindruck erwecken,
ich wäre generell ein Feind der Wissenschaft und Technik, der
Wirtschaft und des Fortschritts und obendrei ein ausgemachter Misanthrop.
Ich bin es mitnichten.
Gewiß trage ich den Trauerflor so mancher humanistischer Ent-Täuschung
in mir, und es spricht mehr Wehmut aus mir als Zorn. Aber jede Enttäuschung
soll mich reifer machen.
Alles in allem bin ich in Sorge. Nicht in Panik, dazu ist das Leben
zu schön. Und doch bin ich der festen Überzeugung, daß die
verführte, funktionalisierte Intelligenz das Korrektiv der tieferen,
vitalen Intelligenz des Menschen braucht. Sie wird auch unseren Politikern
abzuverlangen sein. Insgesamt aber bin ich bereit daran zu glauben,
daß uns Menschen ein Funke von Demut vor der Schöpfung
erhalten geblieben ist.
Mag sein, daß wir ihren unermeßlichen Reichtum erst
dann erkennen werden, wenn er uns endgültig verloren gegangen
ist. Es mag aber auch sein, daß wir ihn erkennen, noch ehe
zu spät ist. Es wird eine Frage unserer Entscheidung sein. Vielleicht
sogar eine Frage des Kampfes, den manche von uns für die Würde
des Lebens zu führen bereit sind. Ich bin es. Oder richter:
ich will es sein. Ich bin aber nicht überzeugt, daß er
gewonnen werden wird. Jedenfalls wird er uns selbst in der Niederlage
mehr an Schönheit bringen, als uns das Verharren in der selbstmitleidigen
Prognostik gegenwärtiger und zukünftiger Realität
an Resignation über die Herzen schwemmt.
Nebst allen düsteren Gefühlen, mit denen uns die Entwicklungen
der Gegenwart weltweit behaften, hat diese Zeit etwas ungemein Aufregendes,
ja Gewaltiges an und in sich. Und nicht nur, um dies zu demonstrieren,
stelle ich das folgende Beispiel an den Schluß meiner Ausführungen:
es verdeutlicht darüber hinaus meinen Begriff von jener vitalen
Intelligenz, der ich als einziger menschlichen Kraft die stete Wende
zum Guten zutraue. Nachdem ich von der folgenden Begebenheit gelesen
hatte, mußte ich weinen. Vor Scham und Dankbarkeit.
Karen und Cheryl sind Zwillingsschwestern. Die beiden heute elfjährigen
Mädchen trennt und verbindet eine Eigenart der Natur. "Gott,
wie war es schön, als Karen und Cheryl zur Welt kamen," sagt
die Mutter der beiden Mädchen. "Wissen Sie, mein Mann Carl
und ich, wir haben uns natürlich immer wieder gefragt: Wird
unser Kind weiß sein, wie ich, oder schwarz wie er. Er sagte
dann immer: Es wird schöner als weiß und schöner
als schwarz, es wird braun. Sie können sich also die Überraschung
vorstellen, als wir plötzlich Zwillinge hatten und ein Kind
weiß und das andere schwarz war. Was haben wir darüber
gelacht."
Das Lachen ist der Familie einer englischen Stadt bald vergangen.
Nebst vielen anderen rassistisch durchdrungenen Vorfällen passierte
auch folgende Episode:
Die Zwillingsschwestern hatten an einer Bushaltestelle über
den etwas ausgefallenen Hut einer Frau gekichert. Daraufhin schnaubte
die Frau die weiße Cheryl an: "Du könntest dir auch
eine bessere Freundin aussuchen. Schämst du dich nicht." Cheryl,
geprägt von einem zwanghaften Übereifer, ihre schwarze
Schwester Karen vor anderen zu verteidigen, hat die Frau daraufhin
gebissen.
Erst beim Verhör der Schwestern durch die Schulleiterin erfuhr
die Frau mit dem Hut von der Blutsverwandtschaft der beiden Mädchen.
Darauf begann sie zu weinen und flehte Karen um Verzeihung an. Am
Wochenende darauf inserierte die Frau im Bezirksblatt:
"Allen Lesern dieser Zeitung versichere ich: Noch nie habe
ich mich so sehr für ein Wort oder eine Tat geschämt. Das
Mädchen hat mir in seiner kindlichen Großmut verziehen.
Doch quält mich die Frage: Wird das zarte Wesen vergessen?"
Diese einfache, hochpoetische Botschaft einer einfachen Frau soll
als Beleg für meine ganz privat getroffene Einsicht gelten:
Scham und Trauer sind die tiefste und folgenschwerste Form der Erkenntnis.
Und der höchste Grad an Intelligenz.
Hätten wir dies nach der beschämendsten Katastrophe dieses
an beschämenden Katastrophen reichen Jahrhunderts, dem Holocaust,
rechtzeitig kapiert - und es gab sie, die daran erinnerten, doch
sie blieben ungehört -, wir müßten jetzt weniger
Angst haben vor den abgehenden und letztlich unkontrollierbar werdenden
fremdenfeindlichen und rassistischen Lawinen und all ihren absehbaren
und unabsehbaren politischen Folgewirkungen.
Wir wären zumindest um jene Spur gefestigter, die unserem Handeln
jene Gelassenheit verliehe, die es erhebt über das bloße,
mitunter schon in Hilflosigkeit und Hysterie ausartende Reagieren.
Das Leben ist unser Reichtum. Nichts als das Leben. Mein Leben,
dein Leben, das Leben aller Menschen auf diesem Planeten.
Versuchen wir, uns wieder daran zu erinnern.
Die Rede iar in einer Publikation der Österreichischen Volkshochschulen
erschienen.
AusschnittTV-Bericht ORF
Kommentare, Reden, Offene Briefe (Auswahl)
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