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Oberwart hinter den Gardinen
Montag Abend. Oberwart ist zurückgekehrt zur Fassade, hinter
der sich sein heimliches Wesen verbirgt, das der Geisterstadt. Hinter
ihren Fenstern kauern sie als Phantome ihrer selbst: Kleinbürger,
die selbst noch ihre Verschrecktheit mit jener Überheblichkeit
zur Schau tragen, die sie tatsächlich erhaben machen soll. Erhaben über
alles, auch über sich selbst. Und der präziseste Ausdruck
der Erhabenheit besteht darin, sich zu verstecken.
Sie haben sich eingesperrt, wie sie es seit Jahrzehnten tun, nachdem
die Läden der alltäglichen Geschäftigkeit zugesperrt
sind. Sie versinken in exzessiver Privatheit, geschützt vor
den Blicken der anderen, versteckt begierlich in ihren eigenen Blicken
auf das andere, unerkannt, anonym. Die geschlossene Gardine vor den
Fenstern ist der Schutzwall des Kleinbürgers. Und seine Gefängnismauer.
In Oberwart kennt jeder jeder. Aber keiner weiß etwas vom anderen.
Als noch Sonntag Abend einige Dutzend aus der Umgebung Angereiste(!)
die Stadtväter mit Nachdruck auffordern, wenigstens die Schwarze
Fahne auf dem Rathausbalkon aufzuziehen, muß der dafür
zuständige Gemeindebedienstete erst aus dem Bett geholt werden.
Einen ganzen Tag lang sind sie nicht von selbst auf Idee gekommen,
ein Zeichen der Trauer zu setzen, paralysiert wie sie waren. Denn
es war nicht nur eine Bombe am Stadtrand explodiert, sondern auch
eine mitten in ihre provinzielle, selbstgefällige Beschaulichkeit
hinein.
Wie sollte man auch vorbereitet sein auf etwas, das inmitten der
eigenen Lebenslüge keinen Platz hat? Man hatte doch Jahrzehntelang
ganz passabel mit den Lügen gelebt! "Es hat nie Probleme
zwischen den Oberwartern und den Roma gegeben", sagt ein Gemeinderat
bei einer spontan entstandenen Versammelung der Angereisten(!) in
jener Nacht, "wir lassen uns nicht auseinanderdividieren."
Wie gut kennt man diese Sätze! Vielleicht zu gut, als dass
man ihre Abgründigkeit überhaupt noch erfasste. Immerhin
beginnt das Problem schon dort, wo sich die Oberwarter Oberwarter
nennen und die Roma "Roma" - neuerdings: denn tatsächlich
wissen die Oberwarter von den Roma nur, daß sie Zigeuner sind.
Zigeuner sind keine Oberwarter. Sie leben nicht einmal wirklich in
Oberwart. Für den unbelastet Durchreisenden endet Oberwart bei
der Ortstafel. Und die steht vor der Roma-Siedlung. Wie sollte man
also etwas auseinanderdividieren, das nicht zusammengehört und
nie zusammengehört hat?
"Hitler hat einen Fehler gemacht", sagte Ende der Sechziger
Jahre die Kassierin des Städtischen Freibades dem damals elfjährigen
Verfasser dieser Zeilen, "er hat nicht dafür gesorgt, daß sie
alle vergast wurden. Jetzt haben wir das Gesindel noch immer."
Dort an der Kasse des Städtischen Freibades, an der sich die
Fratze der aggressiven Ignoranz über eine damals noch unschuldige
kindliche Seele stülpte, dort hat dann später der heranwachsende
junge Mann Oberwart als Synonym gesellschaftlicher Realität
angesiedelt. Und ihm damit vielleicht unrecht getan.
Denn tatsächlich hat die Haltung der Oberwarter zu den einstmals "Neubürger" Genannten
weniger in Aggression bestanden, als vielmehr im Verdrängen.
Wie alles Unangenehme wurde auch das heimliche Schuldgefühl
jenen Mitbürgern gegenüber, die der industrielle Vernichtung
anheim gefallen waren, in den Untergrund des Nicht-Gewusst-Habens,
des Vergessens abgeschoben. Mit dem Schuldgefühl aber wurde
gleich der ganze Mensch Rom verdrängt: ins Ghetto außerhalb
der Stadt, gleich neben die stinkende und rauchende Mülldeponie;
die Kinder in die Sonder-Schule; die Arbeit suchenden jungen Roma
in die Hoffnungslosigkeit und zum Teil ins Kriminal.
Doch seltsam, das Verdrängte kehrt doch immer wieder zurück,
weil es die erfolgreiche Verdrängung am Ende nicht gibt. Denn
immer wieder pflegt es in den mannigfachsten Erscheinungsformen zurückzukommen:
manchmal in absurder. Manchmal auch in tödlicher.
Der Roma-Mensch ist das Verdrängte. Er kehrt immer wieder zurück.
Er ist das schlechte Gewissen. In Oberwart sind am letzten Wochenende
Tote zurückgekehrt.
Auch das muss am Sonntag den Gemeindevätern und Landesvertretern
so grausam in die geistigen Gliedmaßen gefahren sein, dass
sie nicht mehr imstande waren, sie überhaupt noch zu bewegen.
Und sie waren nicht die einzigen.
Während sich das Häuflein Aktivisten abends um halb zehn
auf dem Hauptplatz einfindet, um auf das Aufziehen der Fahne zu warten
- das, nebenbei, anderentags die Reputation Oberwarts in den Medien
so halbwegs retten wird -, gehen in den Wohnungen ringsum die Lichter
aus. Und doch kann man die hinter den Gardinen der Dunkelheit versteckten
Silhouetten beinahe greifen. Sie wollen nicht beobachtet sein beim
Beobachten, sie wollen nicht gesehen werden beim Zusehen. Das Versteck
ist die der Silhouette des Kleinmuts immanente Lebensform.
Mittwoch, drei Tage nach der Katastrophe. Überraschend viele
Oberwarter scharen sich am Nachmittag um den Imbissstand, einem lokalen
Kommunikationszentrum. Kein Wort vom Massaker, kein Wort von den
Betroffenen, kein Wort vom bevorstehende Begräbnis. Das Lachen
der Umstehenden klingt wie tot. Man hat die Gardinen des Verdrängens
schon wieder zugezogen in Oberwart.
Und nicht nur dort. Es gibt ungezählte Oberwarts in Österreich.
Peter Wagner
Der Kommentar wurde am 11. Feber 1995, am Tag des Begräbnisse
der beim Bombenanschlag von Oberwart umgekommenen Roma, unter dem
Titel „Österreich hat viele Oberwart“ in der Tageszeitung „Der
Standard“ publiziert.
Kommentare, Reden, Offene Briefe (Auswahl)
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