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Assoziative Beschauung
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Assoziative Beschauung I
Zu Wolfgang Horwaths dramatischem Gedicht in drei Strophen zu je
vier Bildern
„SELIG“ Donnerstag, 15.4.1999, Cselley-Mühle, nachts.
Wie es sich reißt, so schichtet es sich.
Gedanklichkeit ist
uns zu groß. Und auch zu klein.
Die drei Akte der Seligkeit:
Erinnerung, Sehnsucht, Sein.
Wer mag einen klaren Gedanken haben in
diesen Tagen.
Oder anders gefragt: wer mag ihn nicht haben.
Wer bräuchte keinen
klaren Gedanken.
Wer bräuchte nicht das exakte Bild, das ihm
Gewissheit verschaffte.
Wer wollte nicht wissen, was man zu wissen
hat, um sein Leben in die ihm zustehende Kategorie
hineinzustellen
wie in dem ihm zugeteilten Kleider- oder gleich: Kühlschrank.
Wir
sind krank.
Wir sind krank vor lauter Bildern.
Wir sind am meisten krank nach
dem Bild. Dem dräuenden Bild
unserer privaten Hoffnung. Unserem Bild. Dem Bildnis.
Das uns heilte
für zwei selige Minuten der Selbsttäuschung,
die wir prompt als das Leben selbst missverstehen wollten, weil uns
bisher weder irgendjemand sagte, wer oder was das Leben sei, noch
weil wir es uns selber sagten in Ermangelung einer tauglichen Gewissheit.
Gott ist gegangen.
Nein, der Gedanke ist falsch, wenn auch richtig gedacht - oder richtig,
weil falsch gedacht:
wir sind nicht krank vor lauter Bildern, sondern krank vor endloser
Verhandlung der Bilder - die Verhandlung der Bilder in uns und außerhalb
von uns macht die Bilder und uns naive Bilderesser schon lange und
längst krank:
die Sprache hat uns die Magie der Bilder gestohlen, die Sprache,
jene Große Sinnperformance, das kapitale Eifersüchtige
des kreatürlichen Seins - sie, die gemacht wurde, um nicht die
Seele, sondern das Gesetz zu formulieren - in dem Sinne, wie es da
geschrieben steht.
Man sollte den Hochverrat der sich da wie selbstverständlich
paarenden Daseinsweisen verbieten - oder zumindest unterbinden, dass
die Bilder mit der Sprache, einer sublimen Bilderwelt, weiterhin
zusammengebracht wird. Man machte sich schuldig an der Reinheit unserer
Erinnerung an unser Sein noch vor unserer Zeugung.
Aber leider hat uns die Zeugung am Verbleib in der Reinheit schon
einmal gehindert, und zwar nicht, weil es unrein gewesen wäre,
uns zu zeugen, sondern weil es an sich schon schuldhaft ist, aus
dem Nichts herauszutreten in das sog. Wesenhafte, das nun einmal
in Bezug zu setzen ist zum Seienden. Der Bezug, die Krankheitsquelle.
Die Kirche hat es schon immer gewusst: immerhin erdachte sie die
Erbsünde für uns, um uns nicht achtlos dem Seienden gegenüber
zu belassen - und um das angeborene Anrecht auf Schuld sogleich zum
Legitimationsprinzip ihrer selbst zu erheben: wehe, wir leben, gleich
haben wir das Gesetz um die Ohren. Dieses ist immer noch von Gott
diktiert, welche Farbe auch immer wir ihm geben.
Ach die Priester, sie kennen das Verbrechen der Unschuld wohl, das
Verbrechen wider die Ordnung. Doch ihnen die Unschuld per se keine
Macht bescherte, werden sie sich der Sprache vergewissern: ein Priester
wird Satan mindestens so verehren wie Gott, sagen wir: wir Priester
lassen uns zu allererst von Satan faszinieren, wer den Christ hat,
braucht sich um den Antichrist nicht zu sorgen, Kultur ist mindestens
sosehr das Produkt des Bösen, das kreativ ist, wie des Guten,
das wir gelassen, ja gleichgültig als gelangweilte, metaphysische
Nonchalance vernachlässigen können. Im Gegensatz zu Gott
wissen wir von Satan zumindest, wer er ist. Wir, die Priester, stehen
seit Jahrtausenden in der Schuld unserer Verderber vom Schlage eines
Moses, der all diese Tafeln schuf, in die das Gesetz so lange geschlagen
wurde, bis es leblos war, im Gegensatz zur Sünde, die das Gesetz
vernichtet. Und noch die heutige Jurisprudenz ist mit der Kreativität
des Menschheitsverderbers Moses nicht fertig, im Gegenteil: Moses
Tafeln sind vom Schlage der Hydra, ein einziger kreativer Schlag
gegen das Gesetz gebiert tausend neue Gesetze.
Und doch ist das Gesetz nur das geborene Tote. Das Gegenteil von
Gesetz mustert sich so facettenreich wie das Gegenteil von Mauer:
es ist nicht definierbar. Die Sprache, dieses Fuhrwerk, aberzwingt
uns das Definierbare - um es an der Kippe der Nichtigkeit in den
Abgrund zu werfen wie einen leer gefressenen MacDonalds-Karton. Das
Gesetz, das Geschriebene, das bekritzelte Papier seiner selbst. Die
Medienoligarchie des zwanzigsten Jahrhunderts übt sich denn
auch mit kaum verhohlener Freude in der Funktion eines priesterlichen
Sektiererklub, der die Schande des Moses, der uns das Gesetz auf
Tafeln gab, in und auf und über dünnem Zeitungspapier ausspült
und verwäscht, bis es so dünn geworden ist, dass sich jeder
versniffte Karrierist das Nasenloch damit ausbohren kann, um seinen
temporären Schleim in den Müllkorb des Vergessens hinein
verschwinden zu lassen. Moses war ein blutiger Menschenfreund
im Vergleich zu der menschlichen Scheiße, die heute Weltkapitalismus
praktiziert, und zwar vollkommen unblutig, weil CNN die Bilder von
den Toten in Bagdad und Belgrad, das Bild des Krieges nicht mehr,
grundsätzlich nicht mehr sendet und an seiner Statt das Bildnis
routinierter Handhabe im sterilen Design setzt.
Unablässig fällt die Sprache herab auf uns, jener Stalaktit,
der aus unseren nie geweinten, nicht rechtzeitig genug geweinten
Tränen der vorzeitlichen Erinnerung sich zum Tropfstein unserer
Erinnerungen zusammen geschichten hat, bis er uns mitten in das Selbstbeweinen
hinein stach: wir wollten schon immer wissen, woher das Unsägliche
anstammt, dem wir uns in der Heimtücke unserer Träume,
im Wunschtraum unserer Sehnsüchte, in der Sehnsucht unserer
hilflosen Gier nach Liebe so folgenschwer hilflos ausgeliefert sahen.
Goethe, er muss jung und dumm gewesen sein oder alt und weise oder
alles dies in jeglicher Vermischung, Goethe dröhnt es aus dem
blutroten Gleichnis der Normandieküste heraus:
„Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
das Lebend´ge will ich
preisen,
das nach Flammentod sich sehnet.“
„Seelige Sehnsucht“ nennt er sein Gedicht, das von der
ewig pubertären Lockung spricht, die einst auf dem Chefpolster
einer großen Rüstungsindustrie enden könnte.
„In der Liebesnächte Kühlung
die dich zeugte, wo
du zeugtest,
überfällt dich fremde Fühlung
wenn die stille Kerze
leuchtet.“
Und da heißt es weiter:
„Nicht mehr bleibest du umfangen
in der Finsternis Beschattung
und dich reißet neu Verlangen
auf zu höherer Begattung.“
Moses brüllt wie ein Stier dabei, da er seine virulente Impotenz über
Johann Wolfgang Goethe - entgegen seiner Fama als unersättlicher
Liebhaber ja auch keine sexuelle Größe, sondern ein Melancholiker,
aber das ist ja das Problem der sich von der Natur übervorteilt
Glaubenden - da er also seine virulente Impotenz als überwunden
erachtet.
„Keine Ferne macht dich schwierig
kommst geflogen und gebannt
und zuletzt des Lichts begierig
bist du, Schmetterling, verbrannt.“
Nun aber mag man in der Fortsetzung darüber rätseln, wessen
Geleitwort er meint, jenes der verbrannten Schmetterlinge, die sich
heute vielleicht Serben und Albaner nennen dürfen in Anbetracht
ihrer dialektischen Unsäglichkeit, oder jenes des verbrennenden,
begierlichen Lichts, das sich hinter dem Decknamen NATO und USA als
Deus ex machina einer gottlosen Welt gebärdet:
„Und solang du das nicht hast
dieses: Stirb und werde,
bist du nur ein trüber Gast
auf der dunklen Erde.“
Der Romantiker. Die Kriegstreiber. Goethe. Bill Clinton. (Verzeihung,
daß ich Slobodan Milosevics vergaß, er ist nur der Satan
- sensationell, aber sicher nicht gotthaft wie Goethe. Clinton hingegen
ist ein besserer Trottel, und nur für den Augenblick ähnlich
effektiv wie Goethe: seine Scud-Rakete steckte bis jetzt nur im Mund
der Praktikantin, jetzt aber endlich feuert er.)
Die Sprache ist das Kunstwerk.
Es missbraucht die Bilder schamlos.
Soeben: Scud-Rakate.
Und ungefragt.
Und unbestraft.
Und fügt sie ungefragt und unbestraft und schamlos
zum Bildnis.
Das Bildnis, diese Nutte, ist so kraftvoll, dass es nicht einmal
in Betracht zieht, jemals wider eigenes Wollen beschlafen zu werden,
es erfände sich lieber neu. Wenn
es dann trotzdem schreit: Vergewaltigung, durch den lefzenden Mund
sadomasochistischer Schreiber der Sprache ihr in den Hinterteil suggeriert,
dann ist es selbstverständlich zu spät.
Dann soll sich das Bildnis, bei CNN zum Kaffee-Kochen anstellen
- im Lidschatten ihres Schmerzes wird man nur noch einmal knapp daran
erinnert, dass es ein Bild hinter dem Bildnis gab, vor langer Zeit,
als uns das Schauen einer Erinnerung wert war.
Assoziative Beschauung II
Zu Wolfgang Horwaths Bildern „Die Brüste des Kurators“, „Fragebogen“ und „Die
Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“ Freitag, 16.4.1999, Cselley-Mühle,
vormittags.
In Anbetracht des bekanntesten Bildnisses des Gesetzes, den Gesetzestafeln,
bleibt die Figur, die Ahnung der Figur durch den so grazil verletzbaren
wie gefestigt ewigen, unverletzbaren, weißen Torso, den Leib
des Menschen als Sinnbild für seine irdische Existenz, unberührt,
zentral, erhaben - das Sinnbild nicht nur des Profanen, sondern das
der Würde. Um die nur der Profane zu ringen hat, im übrigen
mit Aussicht auf Erfolg, weil das Göttliche zur Erhebung des
eigenen, im Gegensatz zum Profanen, nicht mehr fähig ist - es
kennt keine Steigerung, es ist im Absoluten erstarrt. Das Gesetz,
die Inthronisierung des Un-Menschlichen, drängt das prinzipiell
hilflose Individuum zur Mobilisierung seiner Würde, in der die
Verletzung als kosmische Erfahrung schlummert und sich zum großen
Erlebnis des sich Hingebenden entwickelt. Der Kampf um die Würde
wird schließlich zum einzigen Kampf des Menschen, den er gewinnen
kann, alles andere - inklusive aller der vermeintlich gewonnenen
Kämpfe - endet früher oder später in der Nichtigkeit,
die den Göttern nicht einmal mehr einen Spott wert ist. Die
Würde hingegen offenbart sich als ihr mächtigstes Feind,
sie ist des Menschen eigenste Leistung, an der die sich wechselhaft
gebärdenden Gesetzestafeln noch den letzten Flair ihres Verbrechens
aushauchen. So verbrecherisch kann das Gesetz gar nicht sein, als
dass es die Würde des erhobenen wilden Tieres Mensch zur Strecke
brächte.
Der Mensch war vielleicht weniger zum Fragen geboren, als zum Fragen
verdammt. Denn erst das Fragen wirft die Existenz auf und erklärt
uns ihren Un-Sinn aus dem Fehlen der gültigen Antwort. Und doch,
auch hier tröstet uns die Figur als dem Bildnis der Würde,
wo eine Figur, der eine einsame Entwurf der Würde, der anderen
Figur, dem anderen einsamen Entwurf der Würde, gegenübersteht.
Vielleicht sind sich beide Gegenüberstehenden ident, das Weibliche
und Männliche, getrennt nur durch die Unerbittlichkeit des Spiegels,
in dem der eine sich im anderen erkennt, erkennen muss als das, was
er selber ist, in all der Sinnlosigkeit des Fragens - nicht erdrückt
- sondern unter den Fragen versteckt, getarnt hinter dem Müllsteinschlag
vergeblichen Bemühens um Wahrheit, dem Wespenhaufen aller hinfälligen
Grundsätze, die ohnehin keiner mehr glauben kann. Glauben will.
Glauben wird. Die Frage, das bessere Versteck. Die Antwort, die traurige
Bankrotterklärung des Lebens, die man sich getrost ersparen
kann. Die Frage, das bessere Versteck. Hier ahnt man vielleicht,
dass die Liebe Heimat ist, Heimat derer, die sich ihr Versteck bewahrt
haben. Der Penis ist nicht umsonst erigiert, sein Ziel ist das Versteck
des anderen, das aufgerissen werden will, ohne es jemals zu sein.
Sein zu müssen. Die Frage ist das bessere Versteck.
Die Wahrheit hingegen die Erfindung eines Lügners. Vorsichtshalber
verkehrt herum zu lesen, denn wer weiß, ob eine Wahrheit, die
behauptet, Wahrheit wäre die Erfindung eines Lügners, nicht
doch gleich lieber im Sinne des Erfinders dieses Satzes zu interpretieren
ist, dass nämlich auch einer, der so etwas behauptet und also
als wahr hinstellt, was nur Lüge sein kann, der allerschlimmste
Gauner unter den aufgeklärten Demagogen sei. Oder lesen wir
es zweimal verkehrt, das verkehrte wieder grade, dann ist der Lügner
eine Erfindung der Wahrheit. Alles in allem kann das nur bedeuten,
dass es nur Lügner und Lügen geben kann, niemals aber so
etwas wie eine Wahrheit, außer der, dass alles Lüge ist
- somit wäre die Lüge die einzige verbleibende Wahrheit.
Vor diesem Hintergrund wird das Spiel der Menschen untereinander
endlich halbwegs verständlich, das Spiel der Individuen untereinander,
das Spiel der Völker, die ja von je her das Meucheln und Morden
und Bombenwerfen mit selektiver Propaganda zu rechtfertigen suchten.
Wie das Schwert einer Kettensäge führt der Wahrheitslügner
sein Werk in die bestehende Ordnung ein, fährt in ihr Fleisch,
in die Skyline der gewachsenen, besser: hochgeschossenen Ordnung.
Während die Hand der Penishandschlange das blaue Gift der Ratio
als ausgespieenen Styx an den Urheber zurückbefördert,
den Wahrheitslügner, einen verborgenen Gott, und wie ich meine:
einen integral ausgeschlossenen Gott. Ist die manifeste Ordnung,
das immer wieder zerstörte und immer wieder neu erschaffene
Babylon, ist die manifeste Ordnung am Ende nicht nur die Erfindung
eines Lügners, sondern gar die eines Rächers, der alles
zerstört, wovon er ausgeschlossen ist, auch wenn er es selbst
erfunden hat, weil auch er an der Unerreichbarkeit der Wahrheit verzagt?
Ist Ordnung nicht überhaupt so etwas wie eine Rache, die Rache
am Fleisch, die Rache an der Würde der Naiven?
Nun denn, so sage ich euch: lügt, was ihr könnt, der Erhaltung
unserer Würde wegen, wir brauchen mehr Wahrheit!
Die Häuser und Türme Babylons sind gesteckt voll, aber
ich wette, wer guten Willens ist, wird unterkommen. Und wenn, ihr
Wahrheitslügner, die Türme euch zu hoch sind, schneidet
sie ab und setzt neue drauf, ihr werde am Ende mit Gott reden und
mit den Göttern verkehren. Ihr alle, wir alle!
Peter Wagner, Czelley-Mühle
Kommentare, Reden, Offene Briefe (Auswahl)
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